Die Gewalt in Kitas geht nicht nur von Gleichaltrigen aus. Foto: dpa/Nicolas Armer

Die Meldungen von Gewalt in Kindertagesstätten sind gestiegen. Auch Stuttgarter Kitas sind nun gesetzlich verpflichtet, Schutzkonzepte zu entwickeln. Manche Experten rufen nach Hilfe von außen.

Die Zahlen lassen aufhorchen, auch wenn sie noch auf niedrigem Niveau sind: Aus den 9600 Kitas in Baden-Württemberg werden zunehmend Fälle von körperlicher, seelischer, sexueller Gewalt oder Verletzung der Aufsichtspflicht gemeldet. So verzeichnete der Kommunalverband Jugend und Soziales (KVJS) zwischen 2020 und 2021 einen Anstieg um 20 Prozent aller Meldungen von 275 auf 330. Für 2022 erwartet der KVJS eine weitere Steigerung.

Das Überraschende: Nicht immer geht die Gewalt von Erzieherinnen und Erziehern gegenüber Kindern aus, sondern auch von Kindern gegen andere Kinder oder sogar gegen das Personal. In den 330 Verdachtsfällen, die 2021 gemeldet wurden, geht es um insgesamt 454 Beeinträchtigungen, von denen sich 113 auf Gewalt beziehen, die von Jungen oder Mädchen ausgingen. In neun dieser Fälle richtete sich die Aggression gegen Erzieher und Erzieherinnen.

„Besonders herausfordernde Kinder“

Einen Eindruck, den die Verantwortlichen in den Kitas bestätigen: Generell haben die Schwierigkeiten mit sogenannten besonders herausfordernden Kindern in den vergangenen Jahren zugenommen – so die Rückmeldungen aus den evangelischen und den städtischen Kitas in Stuttgart.

Eine Erzieherin, die in Kinderbetreuungseinrichtungen im Raum Stuttgart gearbeitet hat, aber anonym bleiben möchte, berichtet: „Gewalt von Kindern gegen Kinder ist normal. Aber wenn sich jeden Morgen eine Gruppe Jungs zusammenrottet, um die Mädchen zu verprügeln, ist das nicht mehr normal.“ Ihr schlimmstes Erlebnis: „Mir hat mal ein Kind ins Gesicht gespuckt“, sagt sie. „Da musste ich mich sehr beherrschen, dass mir die Hand nicht ausgerutscht ist.“

In diesem Moment kam sich die 34-Jährige machtlos vor. „Wir dürfen ja nichts mehr“, sagt sie. Der Versuch, mit der Mutter des Jungen ins Gespräch zu kommen, versandete. „Ich musste mir von kleinen Jungs anhören, dass ich ihnen nichts zu sagen habe.“ Sie sei außerdem beleidigt und getreten worden. Zehn Jahre lang war sie als Erzieherin in verschiedenen Einrichtungen im Raum Stuttgart beschäftigt. „Mir war das dann zu viel“, erzählt sie. Heute möchte sie nicht mehr in diesem Job arbeiten.

Geschultes Personal

„Für die Verarbeitung solcher Fälle brauchen wir dringend Fachkräfte von außen“ sagt Jörg Schulze-Gronemeyer, Leiter der Abteilung Jugend und Soziales der evangelischen Kirche. Immerhin gebe es die Möglichkeit, Erzieher/innen für den Umgang mit besonders herausfordernden Kindern zu schulen. „Wenn man diese Situation aber nicht ordentlich bearbeitet, läuft einem das Personal davon“, sagt er. Und das hätte verheerende Folgen. Denn der Verband der Kita-Fachkräfte Baden-Württemberg sieht auch in der Überforderung der Erzieher/innen durch unterbesetzte Gruppen eine Ursache für Kindeswohlgefährdung.

Die Auslöser für Gewalt in Kitas sind also kein einseitiges Problem. Ohnehin ist das Thema komplex und eines, das die Einrichtungen und Träger derzeit sehr umtreibt. „Wir sind uns bewusst, dass wir uns auf einem schmalen Grat bewegen“, sagt Gerald Häcker, Leiter des Landesjugendamts, das zum KVJS gehört. Wo fängt Gewalt in Kitas an? Von wem geht sie aus? Wie gestaltet man Räume so, dass es keine versteckten Ecken gibt, wo Gewalt unbeobachtet bleibt? Das sind Fragen, die sich die Verantwortlichen in Kitas stellen müssen. Denn jede Kinderbetreuungseinrichtung muss derzeit ein individuelles Konzept entwickeln, das die Sprösslinge vor Gefährdungen schützt. Das schreibt das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz vor, das bereits seit Juli 2021 gilt. Wenn eine Kita jetzt nicht reagiert, droht ihr im Fall einer Meldung von Gewalt das Betriebsverbot.

Unterschiedlichste Fälle von Gewalt

Auch in Stuttgart sind die Einrichtungen der städtischen und kirchlichen Träger momentan an der Entwicklung solcher Konzepte, die Ergebnisse sollen spätestens Ende 2023 präsentiert werden.

Als Vorlage dient ein Eckpunktepapier, das der Kommunalverband für Jugend und Soziales – die Aufsichtsbehörde für Kitas im Land – bereits im März 2022 veröffentlicht hat. Ziel ist es, die jeweiligen Schutzkonzepte überprüfbar zu machen. Zum Beispiel sollen genaue Reaktionswege mit den richtigen Ansprechpartnern für die unterschiedlichsten Fälle von Gewalt festgelegt werden. Das beginnt beim Ignorieren oder Nichtbeteiligen eines Kindes und geht bis hin zum sexuellen Missbrauch. Wichtig ist außerdem der Umgang mit Nähe und Distanz, der Intimsphäre von Kindern, Machtmissbrauch sowie verbaler, nonverbaler, sexueller, physischer und psychischer Gewalt und Vernachlässigung. Ziel sei, das Personal durch genaue Abläufe und Verhaltensempfehlungen zu stärken.

Nun sei jede Kita selbst gefordert, ein Schutzkonzept zu entwickeln, das genau an ihre Bedürfnisse angepasst ist und zugleich den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Dabei sollen auch die Zusammenarbeit mit Eltern und eine Risikoanalyse helfen. Teil dieser Analyse ist die genaue Untersuchung der Räumlichkeiten. Die Frage zum Beispiel, ob ein uneinsichtiger Wickelbereich oder das Spielhäuschen im Garten zum Problem werden könnte und wie die Erzieher/innen damit künftig umgehen sollen. Bisher hatten die Kitas der katholischen Kirche ein Schutzkonzept speziell gegen sexualisierte Gewalt. Die städtischen Einrichtungen und die der evangelischen Kirche haben eigene, allgemeine Anti-Gewalt-Regelungen. All diese Konzepte werden nun an die neuen Anforderungen angepasst.

Vorkommnisse werden eher gemeldet

„Wir müssen außerdem eine gute Rehabilitation für Erzieherinnen schaffen, falls sie zu Unrecht verdächtigt wurden, und eine gute Feedbackkultur schaffen“, sagt Jutta Braungart vom Fachbereich Inklusion und Kinderschutz der Stadt Stuttgart. Dass es mit Rückmeldungen bereits besser funktioniert, vermutet Gerald Häcker: „Ich denke, die steigenden Zahlen der Meldungen sind auch ein Resultat der Sensibilisierung, die wir in den vergangenen Jahren vorangetrieben haben.“ Eltern und Träger würden dem Verband inzwischen eher Vorkommnisse melden, als das früher der Fall war. Der KVJS hilft ihnen dann mit externen Fachkräften von den passenden Stellen, zum Beispiel vom Jugendamt oder Kinderschutzbund, weiter.

„Unsere Hauptaufgabe ist es, das Wohl der Kinder in den Einrichtungen zu schützen, wir sind froh, auf diesem Weg einen weiteren wichtigen Meilenstein geschafft zu haben“, sagt Häcker. Es müsse aber Schritt für Schritt weitergehen. Und auch das ist klar: „Schutzkonzepte befinden sich in einem dauernden Anpassungsprozess.“