Auf der Leseterrasse in der Böblinger Bibliothek lesen Besucher einander Gedichte, Zeitungsartikel und große Klassiker. Foto: factum/

Früher versammelten sich Menschen um ein Kerzenlicht und lasen einander Geschichten vor. „Z’Licht“ gehen, sagte man. In der Stadtteilbibliothek Diezenhalde wird diese Tradition weitergepflegt. Und statt Kerzenlicht leuchtet die Abendsonne.

Böblingen - Werner Kramme erzählt vom Tod. Die Brille gefaltet vor ihm auf den Tisch. Er rückt mit dem Stuhl ein Stückchen vor, beugt sich über ein elektronisches Buch, einen Kindle. Dann liest er die Geschichte einer Frau, die ihrem Ehemann ein Nervengift unterjubelt und ihn bei vollem Bewusstsein ersticken lässt. Seine Stimme ist laut, immer wieder befeuchtet er mit der Zunge seine Lippen.

Um ihn herum sitzen 18 Menschen, die meisten im Alter ergraut. Es ist still. Manche schauen auf die Tischrosen. Andere blicken auf die Jugendlichen, die nebenan einen Basketball in Körbe werfen. Als Werner Kramme die Geschichte von Ferdinand von Schirach zu Ende liest, bricht die Spannung. Die Leute klatschen vier, fünf Mal in die Hände. Manche lachen angesichts der gelungenen Pointe am Ende.

Früher, als die Menschen keinen Fernseher, kein I-Phone und vielleicht auch kein elektrisches Licht hatten, saßen sie in dunklen Wintern um eine brennende Kerze herum und lasen Geschichten – „z’Licht gehen“, sagte man damals. Zwei Mal im Jahr lässt die Stadtteilbibliothek Diezenhalde diese Tradition wieder aufleben und entzündet im Januar zwischen den Bücherregalen ein Licht. Jetzt ist sie erstmals auch im Sommer „z’Licht“ gegangen, unter einem herrlich violetten Sommerhimmel auf der Terrasse der Stadtteilbibliothek in Böblingen.

Gedichte, Klassiker, Witze

„Pünktlich kommen ist heute wohl uncool“, sagt ein Mann in schicker beigefarbener Hose und nippt an seinem Bierglas. Hinter ihm rücken zwei Damen einen zusätzlichen Gartentisch heran für die Gäste, die verspätet eintreffen. Wie eine lange Debattiertafel sieht der Tisch jetzt aus. Mit Getränken darauf, Nüssen in kleinen Schalen, Büchern, Zeitungsschnipseln und ausgedruckten Blättern vor den Teilnehmern.

Das Programm ist offen: es gibt keine Vorgaben, was Reihenfolge oder Gattungen zum Vorlesen angeht. Die Teilnehmer bestimmen, was sie ihren Zuhörern vorstellen möchten. Das sind große Erzählungen, Kolumnen aus der Zeitung, selbst geschriebene Gedichte.

Eine kleine, flinke Frau ist nun an der Reihe. Eleonore Reck entfaltet einen Zettel und liest einen Witz. Nach der harten gesellschaftlichen Anklage des Priesters Paul Schobel, die ihre Nebensitzerin zuvor mit ernster Stimme und pathetischen Pausen vorgetragen hatte, vielleicht ein guter Moment für etwas Auflockerung. Also, beginnt sie: George Bush, Obama und Trump stehen vor Gott und wollen ins Paradies. „Woran glaubt ihr?“, fragt Gott. Während Bush an die Marktwirtschaft und Obama an die Demokratie glaubt, sagt Trump zu Gott – Elenore Reck kichert etwas, ihre Stimme überschlägt sich – „Ich glaube, Du sitzt auf meinen Platz“. Alle lachen. Die Kinder nebenan sind mittlerweile verstummt.

„Ich will nur noch gute Bücher lesen, im Leben bleibt mir nicht mehr viel Zeit“

„Ich will nur noch gute Bücher lesen, denn mir bleibt im Leben nicht mehr viel Zeit“, sagt Elenore Reck später. Sie zeigt den Buchrücken von „Sämtliche Werke von Gottfried Keller“, einen dicken Schinken im schwarzen Umschlag. Wobei sie meistens Bücher hört. Beim Putzen, Unkrautjäten, Kochen, Spazieren. Sie zückt ihr Smartphone und präsentiert in einer App Zahlen, Grafiken und Kurven, die ihr persönliches Leseverhalten dokumentieren. 462 Bücher sind es mittlerweile, die sie in den vergangenen Jahren vorgelesen bekam. Literatur als Sound eines Lebens sozusagen.

Die Sonne geht unter, eine Frau mit kirschgroßen Ohrringen legt sich eine Strickjacke über die Schultern. Werner Kramme wirkt nun etwas müde, das konzentrierte Zuhören strengt an, so schön es auch ist, wie er nach der Veranstaltung erzählt. Er hat lange überlegt, was er vorlesen sollte. Mit seinem Krimi glaubt er, den richtigen Ton getroffen zu haben. „Wenn mich ein Buch um die Nächte bringt, kann es so schlecht nicht sein“, sagt er schmunzelnd.