Der Marktplatz am Nachmittag des 21. Januars 1993: zum Bersten voll. Foto: Kraufmann/Kraufmann

Ein landesweiter Aktionstag gegen rechte Gewalt war am 21. Januar 1993 Höhepunkt einer von Musikern initiierten Kampagne. Mit 25 000 Teilnehmern auf dem Marktplatz war es die bis dahin größte Demonstration in Stuttgart.

Es kommen immer mehr – Dabei ist der Stuttgarter Marktplatz bereits seit dem frühen Nachmittag des 21. Januar 1993 zum Bersten voll. Es herrscht eine Stimmung wie bei einem Open-Air-Rockkonzert. Vor der Bühne am Rathaus drängen sich vor allem jugendliche Besucher, die Menge reicht bis zum Schillerplatz auf der einen Seite, zur Eberhardstraße und zur Hirschstraße auf der anderen. Die Polizei riegelt schließlich die Schulstraße ab, damit niemand im Gedränge zu Schaden kommt. Grund für den Ansturm sind die Popstars, die auftreten werden: die „Fantastischen Vier“, deren Karriere gerade einen kometenhaften Aufstieg nahm, und „Pur“, die ebenfalls seit Kurzem die Hitparade stürmen.

Die Fantastischen Vier als Zugpferd

Die Auftritte sind zwar kurz – Redner wie der Landtagspräsident Fritz Hopmeier sollen Zeit für die Kundgebung gegen Rechts bekommen – der Applaus für die Musiker ist jedoch frenetisch. Anlass für den landesweiten Aktionstag, einem Donnerstag, waren mehrere rassistische Angriffe, die sich im Jahr 1991 ereignet hatten. Vor allem die Ausschreitungen im sächsischen Hoyerswerda, wo Neonazis Unterkünfte von Vertragsarbeiter aus Afrika und Asien angriffen und in Brand steckten, hatte Entsetzen in ganz Deutschland ausgelöst. Für Lars Besa, Frontmann der Punkband „Normahl“, war es Anlass, das Lied „Niemals vergessen“ zu schreiben. Doch damit allein wollte er es nicht bewenden lassen.

„Wir haben alle, die wir kannten, angeschrieben, um eine gemeinsame Aktion auf die Beine zu stellen“, erinnert sich der Musikpromoter Hans Derer, der damals bei dem Stuttgarter Musikverlag Intercord arbeitete. Doch zuerst einmal gab es einen Dämpfer. „Es herrschte Schweigen im Walde. Nur ein ,Bär’ antwortete“, sagt Derer und lacht. Andreas „Bär“ Läsker, der Manager der „Fantastischen Vier“, war der erste Mitstreiter. Mit dem Stuttgarter Hip-Hop-Quartett, das gerade seine ersten sensationellen Erfolge feierte, war ein effektives Zugpferd dabei. Schließlich waren mehr als 200 Leute aktiv, alle ehrenamtlich. „Keiner, den wir fragten, hat gesagt: ,ich mach nicht mit’.“

Anti-Gewalt-Song im Auftrag des Landtags

Eine gemeinsame Musikproduktion entsteht: „Wir für alle – gemeinsam gegen Hass und Gewalt“ hieß das Musikprojekt, an dem neben Fanta 4 unter anderen die Gruppen Pur und Normahl, die Sänger David Hanselmann und Matt Sinner dabei waren. „Niemals vergessen“ wurde die Hymne der Aktion. Erstmals wurde ein eigens geschriebener Anti-Gewalt-Song, produziert im Auftrage des Landtags von Baden-Württemberg vorgestellt: „Aufwachen – Aufstehen – Hinstehen“. Ein Teil des Erlöses aus dem Verkauf dieser CD ging an die Mobile Jugendarbeit, wofür sich der Grünen-Politiker Rezzo Schlauch starkmachte.

Das Echo auf das Musikprojekt ist enorm

Neben den Musikern stiegen das Stadtmagazin Prinz und der damalige Süddeutsche Rundfunk (SDR) – „Radio für den Wilden Süden“ - ins Projekt ein. „Von Matthias Holtmann, der Musikchef und die Stimme von SDR3 war, stammt unser Slogan: Kein Hass im Wilden Süden“, sagt Derer.

Das gemeinsame Trommeln wurde schließlich auch weit außerhalb des Großraums Stuttgart wahrgenommen. Die damalige Familienministerin Angela Merkel reiste zur Pressekonferenz im Herbst 1992 an. Das Projekt wurde im Herbst 1992 im Stuttgarter Theaterhaus – damals noch in Wangen – vorgestellt.

„Ihren Höhepunkt fand die Aktion als das Kultusministerium Baden Württemberg, der SDR und die Stadt Stuttgart zu einer Kundgebung auf dem Stuttgarter Marktplatz luden. 25 000 Schülerinnen und Schüler bekamen schulfrei und demonstrierten vor dem Rathaus in Stuttgart friedlich“, erinnert sich Hans Derer.

Hoyerswerda

Anschläge
Die Ausschreitungen im September 1991 im sächsischen Hoyerswerda waren der Auftakt zu einer Reihe fremdenfeindlicher Ausschreitungen von Neonazis. Dabei wurden ein Wohnheim für Vertragsarbeiter und ein Flüchtlingswohnheim angegriffen. Bis zu 500 Personen standen vor den Heimen und beteiligten sich an den Angriffen. Die Polizei zeigte sich nicht in der Lage, die Angriffe zu stoppen.

Folgen
Während der Ausschreitungen wurde 32 Menschen verletzt, 82 Personen wurden festgenommen, von denen vier verurteilt wurden. Nach Hoyerswerda kam es zu weiteren Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte in Sachsen, Niedersachsen, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.