Taliban-Kämpfer fahren in einem erbeuteten Jeep der afghanischen Armee durch die Stadt Herat im Westen des Landes. Auch ins Stadtzentrum der Hauptstadt Kabul rückten sie jetzt vor. Foto: dpa/Hamed Sarfarazi

Kampflos und jubelnd sind Taliban in die afghanische Hauptstadt Kabul eingezogen. Der Präsident ist geflohen, deutsche Botschaftsangehörige sollen vom Fallschirmjägern gerettet werden. Und im neuen Gottesstaat der Taliban entsteht wieder ein Hort des Terrorismus, sagen Kenner der Region voraus.

Stuttgart -

Während Kämpfer der Taliban sich in den Vororten Kabuls breit machen, bereiten sich die Menschen in der afghanischen Hauptstadt auf die Zukunft vor: Mit Schrubbern rücken sie Werbeplakaten zu Leibe, die unverhüllte Frauen zeigen.

Während der afghanische Innenminister Abdul Sattar Mirskwal die „friedliche Machtübernahme“ an die Taliban ankündigt, Chinnok-Helikopter im Minutentakt Menschen aus der Botschaft der USA fliegen, übermalen Afghanen alles, was die selbst ernannten Gotteskrieger verstören und ihren Zorn hervorrufen könnten. Der afghanische Präsident ist nach Tadschikistan geflohen. Auch Deutschland hat sein Botschaftspersonal zum Flughafen in Sicherheit gebracht; Fallschirmjäger der Bundeswehr soll es am morgigen Montag retten. Am späten Sonntagabend rückten Krieger der Taliban kampflos und jubelnd ins Zentrum der Hauptstadt vor. „Was bleibt uns denn anders übrig, als das Schicksal zu akzeptieren, was ihr im Westen uns auferlegt habt“, klagt am Telefon Hojatullah Zazai, der jahrelang für internationale Hilfsorganisationen arbeitete. „Es wird so werden wie in der Zeit bevor ihr zu uns kamt.“ Eine Nation, die von Kriegsgewinnlern, Fanatikern und Terroristen im Kampf um die Macht in Schutt und Asche gelegt wird. In der jeder umgebracht wird, der nicht deren Vorstellungen entspricht oder sich ihnen anschließt.

Taliban 2.0 – jeder zweite ein Ausländer

Dabei haben es die Analysten vorhergesehen. Haben davor gewarnt, dass sich aus dem Haufen konkurrierender, radikal islamischer Fraktionen schnell eine Einheit bildet, die das Land überflutet, sollten die internationalen Militärs abziehen. Dass Islamisten, die sich in den vergangenen Jahren genauso oft gegenseitig metzelten wie die Regierung und deren Sicherheitskräfte, sich schnell zusammenfänden, um Seite an Seite das Kalifat, den Gottesstaat Afghanistans auszurufen.

Dass die von Nato und Bündnispartnern ausgebildeten afghanische Armee und Polizei schnellstens davon laufen werden – wenn sie nicht ohnehin schon auf der Soldliste der Taliban stehen. „Die neuen Taliban sind gefährlicher als die, die der Westen 2001 kennenlernte, als er nach Afghanistan kam“, sagt Sean Maloney, Geschichtsprofessor am Royal Military College im kanadischen Kingston. „Die Taliban 2.0, das sind nicht mehr nur Paschtunen aus dem afghanisch-pakistanischen Grenzland. Heute kommt jeder zweite aus dem Ausland.“ Kriegsgestrandete aus Syrien seien dabei, Kämpfer aus den Gebieten in Pakistan und Nordindien, in den Urdu gesprochen und islamische Gewalt gepredigt wird.

Jahrelang hat Maloney die Nato und kanadische Truppen in Afghanistan beraten. Vergebens: „Was wir in diesen Tagen in Afghanistan erleben, ist kein Taliban-Blitzkrieg. Das ist das Ergebnis jahrelanger Verhandlungen mit Stammesältesten, religiösen Führern und dem pakistanischen Geheimdienst.“ Wichtige Stämme, die sich den Taliban hätten entgegenstellen können, verhielten sich jetzt neutral. „Das war nur durch lange Verhandlungen zu erreichen“, sagt der Historiker. Er wirft den US-geführten Truppen vor, nicht bemerkt zu haben, dass vor allem in der Region um Kandahar die von der Nato trainierten Einheiten der afghanischen Polizei und Armee „abschmolzen und die Seiten wechselten“.

Der Westen war nie ein Gewinner

Dies ist eine Kerbe, in die auch der Afghanistan-Kenner Anthony Cordesman schlägt. „Zwei Jahrzehnte lang haben westliche Politiker und Kommandeure das komplexe Geflecht aus Stämmen und Islam am Hindukusch nicht verstanden“, sagt der Amerikaner. „Vor allem nicht, dass die paschtunischen Stämme immer die Gewinner unterstützen. Oder die, die wie Gewinner aussehen – und der Westen war nie Gewinner in Afghanistan.“ Einer der Stämme, die gerade nur zuschauen, sind die Popalzai, zu dem der frühere afghanische Präsident Hamid Karzai gehört – lange Zeit im Westen als Heilsgestalt hofiert.

Man habe den Gesprächen zwischen der aktuellen afghanischen Regierung und den Taliban seit Monaten tatenlos zugeschaut, „wohlwissend, dass es den Gotteskriegern nur darum ging, Zeit bis zum Abzug der westlichen Truppen zu gewinnen“. Cordesman schaut besorgt in die Zukunft: Afghanistan werde nun wieder ein Hort des islamisch motivierten Terrorismus.