Bundeswehrsoldaten im Gespräch mit Dorfbewohnern in der Nähe von Kabul. Ortskräfte halfen der Truppe jahrelang unter anderem als Dolmetscher. Foto: imago images/Stefan Trapp/e

Die Bundesregierung versprach ihren afghanischen Helfern, sie unkompliziert in Deutschland aufzunehmen. Doch die Realität sieht anders aus. Dies ist die Geschichte eines in Stuttgart lebenden Afghanen, der um seine Familie bangt.

Berlin - Schnell und einfach sollten die afghanischen Mitarbeiter der Bundeswehr nach Deutschland kommen können. So lautete zumindest das Versprechen. „Ich empfinde es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen“, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im April. Doch während die Bundeswehr bis Ende Juni ihren Abzug vollendete und dabei neben Zehntausenden Dosen Bier auch einen 26 Tonnen schweren Gedenkstein für ihre Gefallenen nach Deutschland transportierte, blieben viele Ortskräfte in der Unsicherheit zurück.

Das zeigt die Geschichte von Massud (Name von der Redaktion geändert) und seiner Familie. Es ist auch die Geschichte eines überhasteten Abzugs und von deutscher Bürokratie, die auf die Angst der früheren Helfer trifft, deren Land nach 20 Jahren ausländischer Militärpräsenz wieder in die Hände der Taliban zu fallen droht. Tausende Afghanen arbeiteten in den vergangenen beiden Jahrzehnten für die Bundeswehr, für die US-Armee oder die Truppen anderer Nationen. Sie waren Dolmetscher und fuhren mit den ausländischen Soldaten auf Patrouille, sie machten die Wäsche in den Camps oder waren als Fahrer tätig. In den Augen der Taliban machte sie das zu Verrätern.

Nachts riefen die Taliban auf dem Handy an

Einer von ihnen war Massud, der im Camp Marmal der Bundeswehr bei Masar-i-Scharif jahrelang im Materiallager beschäftigt gewesen ist. Auch die anderen männlichen Mitglieder seiner Familie arbeiteten direkt oder als Angestellte von Militärdienstleistern indirekt für die Deutschen, wie er am Telefon erzählt. Im Vergleich zu anderen Afghanen verdienten sie gut. Es war bekannt, dass die Männer der Familie Jobs bei den Ausländern hatten. Mit der Angst bekam Massud es zu tun, als nachts sein Handy klingelte und die Taliban ihn mit dem Tod bedrohten. Auch an seinem Haus hinterließen sie Drohungen.

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Diese habe er der Bundeswehr gezeigt, berichtet Massud. Seine Gefährdung wird von der Bundesregierung anerkannt, sie erteilt ihm, seiner Frau und den drei kleinen Söhnen ein Visum. Im Januar 2017 kommen sie nach Deutschland, ihre erste Bleibe ist die Asylunterkunft an der Leypoldtstraße in Stuttgart-Plieningen. Massud hat seitdem keine feste Arbeit mehr, seine Kinder wachsen fern der Heimat auf, aber sie sind in Sicherheit. Später gerät in Masar-i-Scharif auch einer von Massuds Brüdern wegen seiner Arbeit für die Bundeswehr ins Visier der Taliban, er kann deswegen ebenfalls nach Deutschland kommen und lebt heute bei Sigmaringen.

Angst um die Familie in Masar-i-Scharif

Doch Massuds Angst um die restliche Familie in Masar-i-Scharif bleibt, besonders als die Nato-Staaten auf Drängen der USA im Frühjahr 2021 damit beginnen, ihre Truppen innerhalb nur weniger Wochen aus Afghanistan abzuziehen. Damit entfällt auch ihr Schutz für die Ortskräfte, während die Taliban immer weitere Gebiete Afghanistans unter ihre Kontrolle bringen. Die Lage in Afghanistan entwickele sich „rasant“, die Sicherheitslage verschlechterte sich, so die aktuelle Einschätzung des Auswärtigen Amts. „Ich mache mir große Sorgen“, sagt Massud.

Die Bundesregierung bekennt sich mit der Entscheidung für den Truppenabzug öffentlich zu ihrer Verantwortung für die ehemaligen Helfer, die nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für das Auswärtige Amt, das Entwicklungsministerium und das Innenministerium im Einsatz waren. „Wir reden hier von Menschen, die zum Teil über Jahre hinweg auch unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit an unserer Seite gearbeitet, auch mitgekämpft haben und ihren persönlichen Beitrag geleistet haben“, sagt Kramp-Karrenbauer.

Die Bundesregierung streitet wochenlang über Aufnahme

Doch intern streiten die verantwortlichen Ressorts wochenlang über die Aufnahme der Ortskräfte. Zunächst sollen nur die kommen dürfen, die in den vergangenen zwei Jahren für Deutschland tätig waren, wenn sie eine Gefährdung aufgrund ihrer Arbeit nachweisen können. Nach öffentlicher Kritik weitet die Bundesregierung dies auf die Mitarbeiter früherer Jahre aus. Für die Reise nach Deutschland müssen die Betroffenen selber aufkommen. Erst als ein von Bundeswehrsoldaten getragenes Patenschaftsnetzwerk zu Spenden für die Flüge der Ortskräfte aufruft, verkündet die Bundesregierung, sie wolle helfen, etwa in dem sie Flugtickets bezahlt.

„Ich setze mich sehr dafür ein, dass wir pragmatische Lösungen finden“, verspricht Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer Sommerpressekonferenz vor zwei Wochen. „Ich möchte, dass wir denen, die uns sehr stark geholfen haben, auch wirklich einen Ausweg bieten.“ Inzwischen hat die Bundesregierung mehr als 2400 Visa an Ortskräfte und deren Familien ausgegeben, von denen sich mit dem Stand vom 29. Juli mittlerweile mehr als 1360 in Deutschland befinden.

„Ich schäme mich in Grund und Boden für mein Land“

Doch damit sind die Probleme nicht vorbei. Die deutschen Behörden waren nicht auf die Aufnahme der Ankommenden vorbereitet. So erlebte es ein älterer Bruder von Massud, der Anfang Juli zusammen mit seiner Familie über Istanbul nach Stuttgart flog. „Die ehemaligen Helfer, die es auf eigene Faust geschafft haben nach Deutschland zu kommen, werden hier von den deutschen Bundesbehörden völlig alleine gelassen“, beklagt Susanne Hoepfner. Die Stuttgarterin hat Massud 2017 als Helferin in der Flüchtlingsunterkunft in Plieningen kennengelernt und unterstützt ihn seitdem.

Bereits Tage bevor der Bruder mit seiner Frau und den vier Kindern in der baden-württembergischen Landeshauptstadt ankommt, bemühen sich Hoepfner und Massud um eine Bleibe, telefonieren mit Behörden. Zunächst erfolglos, dann soll die Familie nach einigem Hin und Her schließlich in einer Gemeinde nahe Peine in Niedersachsen unterkommen. „Ich war schockiert“, sagt Massud. Fotos der zugewiesenen Wohnung zeigen eine verdreckte Toilette, einen schimmeligen Kühlschrank, offenliegende Steckdosen. Die „Müllwohnung“ nennt Massud die Unterkunft. „Das ist derart schäbig und erbärmlich“, sagt Susanne Hoepfner. „Ich schäme mich in Grund und Boden für mein Land.“

Bruder hängt in Kabul fest: Kein Visum für das Neugeborene

Die Familie des älteren Bruders tingelt fast einen Monat herum, schläft bei Massud oder bei Bekannten. Am Dienstag dann die gute Nachricht: Sie haben eine saubere Wohnung in Niedersachsen bekommen, berichtet Massud erleichtert.

Ein jüngerer Bruder steckt derweil noch in Kabul fest. Als die Deutschen noch in Masar-i-Scharif waren, bekam auch er wegen seiner Tätigkeit für die Bundeswehr ein Visum für sich und seine hochschwangere Frau. Doch als die kleine Tochter zur Welt kommt, sind die Deutschen nicht mehr vor Ort, um auch ein Visum für das Baby zu erteilen, so erzählt es Massud. Die Bundesregierung hatte mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ausgemacht, dass sie für die Anfragen der Ortskräfte in Masar-i-Scharif ein Büro eröffnet. Doch der IOM ist die Lage dort zu gefährlich. Also fliegt Massuds Bruder in die Hauptstadt Kabul, um dort Kontakt zur IOM aufzunehmen. Wie es für seine Familie weitergeht, weiß Massuds Bruder jedoch weiterhin nicht.

Die deutschen Behörden scheinen aufgewacht zu sein

Inzwischen scheinen die deutschen Behörden aufgewacht zu sein. Am Montag veröffentlichte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf seiner Internetseite mehrsprachige Informationen für die afghanischen Ortskräfte. Die Betroffenen werden aufgefordert, ihre Ankunft auf einem deutschen Flughafen vorab anzumelden, damit sie abgeholt werden können. Auch eine Telefonhotline ist freigeschaltet. Neugeborene könnten mit einem afghanischen Reisepass ein Visum bei der Ankunft in Deutschland erhalten, heißt es dort.

Eine große Sorge bleibt für Massud das Schicksal seiner Eltern. Sein Vater arbeitete nicht direkt für die Bundeswehr, sondern für den Militärdienstleister Ecolog. Für ein Visum kommt er somit aus Sicht der Bundesregierung nicht infrage. „Die Taliban kennen uns, sie wissen, wo wir wohnen“, sagt Massud. „Wenn die Taliban nach Masar-i-Scharif kommen, haben meine Eltern keine Chance.“