„Vom Staatsoberhaupt mehr Taktgefühl erwartet“: Die Äußerungen des Bundespräsidenten Gauck zum Thema Sexismus stoßen auf unerwartet heftige Kritik.

Berlin - Eigentlich hatte der Bundespräsident eine aus seiner Sicht übertriebene Debatte beruhigen wollen. Aber das ist ihm gründlich misslungen. Tatsächlich schlägt ihm plötzlich so heftig Kritik wie noch nie in seiner bisherigen Amtszeit entgegen. Berlin -

Ausgelöst hat die Aufregung eine Interview-Äußerung des Staatsoberhaupts zu den Sexismus-Vorwürfen gegenüber dem FDP-Politiker Rainer Brüderle. In diesem Zusammenhang hatte Gauck von „Tugendfuror“ gesprochen und hinzugefügt, er sei da „weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwarten würde“. Er glaube hierzulande auch nicht an „eine besonders gravierende, flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen.“

Nun aber kocht die Debatte, die der Bundespräsident beruhigen wollte, erst recht wieder hoch. Besonders deutliche Kritik kommt aus den Reihen der SPD. Elke Ferner, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und Chefin der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, sagte den Stuttgarter Nachrichten: „Die Äußerungen des Bundespräsidenten sind nicht okay. Ich hätte vom Staatsoberhaupt mehr Taktgefühl erwartet.“ Wenn er nicht wisse, wie die Wirklichkeit sei, dann solle er „innehalten und sich erkundigen“. Sexismus sei nämlich auch in Deutschland „ein flächendeckendes Problem“. Es gebe einen „täglichen Sexismus, bei dem Männer die Frauen nicht auf Augenhöhe und mit mangelndem Respekt behandeln“, so Ferner.

"Es geht um gesellschaftliche Strukturen"

Auch Caren Marx, frauenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, ging auf Distanz zu Gauck. Sie nannte die Wortwahl des Bundespräsidenten „absolut unglücklich“. Sie könne verstehen, dass die Formulierung bei vielen Frauen Irritationen auslöse. Gauck argumentiere „am Thema vorbei, wenn er Sexismus auf eine Frage der Moral reduziert“, sagte Marx. „Es geht nicht um Moral, sondern um gesellschaftliche Strukturen.“ Einkommen, Macht und Vermögen seien in Deutschland einseitig zugunsten von Männern verteilt, und das begünstige Sexismus.

Weniger hart urteilte dagegen die FDP-Bundestagsabgeordnete Nicole Bracht-Bendt. Sie sagte: „Ich halte die Kritik an Bundespräsident Gauck für völlig überzogen.“ Ausgerechnet ihm mangelndes Feingefühl und fehlenden Respekt gegenüber Frauen vorzuwerfen, könne sie nicht nachvollziehen. Niemand streite ab, dass es leider sexuelle Belästigungen durch Männer und Frauen gibt. Männern pauschal sexistisches Verhalten zu unterstellen sei „Blödsinn“.

Im Netz gehen die Diskussionen weiter. In einem offenen Brief wandten sich Frauen an Gauck. „Wir vermissen in Ihren Äußerungen vor allem Feingefühl und Respekt gegenüber all den Frauen, die sexistische Erfahrungen gemacht haben“, heißt es in dem offenen Brief junger Frauen, über den am Mittwoch mehrere Online-Medien berichteten.

Für das Bundespräsidialamt kommen die sehr heftigen Reaktionen offenbar überraschend. Eine Sprecherin erklärte am Mittwoch, dass Gauck grundsätzlich nicht auf offene Briefe reagiere. Dem Staatsoberhaupt sei aber „selbstverständlich bewusst“, dass Sexismus ein Problem in der Gesellschaft darstelle. Er werde sich auch weiterhin mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit befassen.