Vor allem für Neuzugezogene und Flüchtlingsfamilien ist der Aufnahmestopp von vielen Kinderärzten ein Problem. Foto: dpa

Viele Kinderärzte in den Stuttgarter Filderbezirken nehmen nur noch Neugeborene als Patienten auf. Und das, obwohl es in Stuttgart statistisch gesehen knapp 30 Prozent Kinderärzte zu viel gibt. Wie kommt das?

Filder - Wenn Flüchtlingskinder aus den Filderbezirken einen Arzttermin benötigen, bedarf es – zumindest abseits von Degerloch – viel Glück, um einen solchen bei einem hiesigen Kinderarzt zu bekommen. Viele Kinderärzte nehmen nur noch Neugeborene als neue Patienten auf, ansonsten herrscht zumeist ein Aufnahmestopp. In Degerloch indes ist die Welt noch in Ordnung – dank des Allgemeinmediziners Wolfram Faber. Er hat sich schon 2015 bereit erklärt, sich um die Kinder der Flüchtlingsunterkunft auf der Waldau zu kümmern. „Rund zehn Prozent meiner Patienten im Kinder- und Jugendalter sind heute Flüchtlinge“, sagt Faber. Den Aufwand, den er bei Untersuchungen und Behandlungen mit Flüchtlingen betreiben müsse, mache aber deutlich mehr als zehn Prozent des Arbeitsaufkommens aus. Nicht zuletzt, weil häufig Dolmetscher fehlten, um das Kommunizieren mit den Kindern und Eltern zu vereinfachen.

Ärte wehren sich vehement dagegen, neue Patienten aufzunehmen

Natascha Szulmirski arbeitet in der sozialen Betreuung der Flüchtlingsunterkunft am Guts-Muths-Weg. Sie weiß um den Vorteil, den sie mit ihren Klienten in Degerloch dank Wolfram Faber genießt. „Herr Faber nimmt alle unsere Kinder auf, lange Wartezeiten gibt es nicht“, sagt sie. Dabei sei es egal, ob es um Akutbehandlungen oder die für den Kita-Besuch erforderlichen U-Untersuchungen gehe. Eine Familie, die den Kinderarzt aus persönlichen Gründen gerne wechseln würde, findet aber keinen Ersatz. „Wir haben uns schon die Finger wund telefoniert“, sagt Szulmirski. „Andere Kinderärzte wehren sich vehement, neue Patienten aufzunehmen.“

Das weiß auch eine Mitarbeiterin der Flüchtlingsunterkunft an der Leypoldtstraße in Plieningen. „Wir haben große Schwierigkeiten, Kinderärzte zu finden“, erzählt die Sozialarbeiterin. „Es geht einfach nicht; Neuaufnahmen gibt es nur bei Geschwisterkindern oder Neugeborenen“, weiß sie. Die Folge: „Wir gehen inzwischen aus dem Stadtgebiet raus.“ Im Kreis Esslingen gebe es noch den einen oder anderen Kinderarzt, der Neupatienten aufnehme. „Aber auch da ist es bereits eng.“ Tragisch findet sie: Teilweise habe man sogar schon den Weg in ein Krankenhaus auf sich nehmen müssen, weil keine Behandlung vor Ort erfolgte. Die Ärzte hätten Sorge, dass, wenn ein Kind bei ihnen behandelt, es dann auch als Patient geführt würde. Das wollten sie wegen der eigenen Arbeitsüberlastung vermeiden.

Immer häufiger stößt der Arzt an die Grenzen seiner Belastbarkeit

Wolfram Faber kann dies in gewisser Weise verstehen. Auch er stößt immer häufiger an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Flüchtlingskinder werden von ihm oft in der Mittagspause behandelt. Faber würde sich wünschen, es gebe mindestens einen weiteren Kollegen auf den Fildern – „denn es ist in der Tat für alle Beteiligten eine sehr schwierige Situation“, erklärt er.

Statistisch gesehen gibt es aber in Stuttgart gar kein Problem, denn der Grad der Versorgung mit Kinderärzten liegt bei 128,2 Prozent. „Das ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis“, sagt Faber. Rein formal bedeutet dies schließlich, dass es knapp 30 Prozent Kinderärzte zu viel gibt, und das hat zur Folge, dass sich keine weiteren Kinderärzte in Stuttgart niederlassen dürfen. Ab dem Versorgungsgrad von 110 Prozent gilt eine Niederlassungssperre. „Es gibt aber Notausgänge“, sagt Kai Sonntag, der Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung. Heißt: Wenn ein Kinderarzt eine neue Praxis eröffnen wolle, versuche die Kassenärztliche Vereinigung, dies möglich zu machen.

Gesundheitsministerium hat 1993 die Zahl der Arztsitze begrenzt

In absoluten Zahlen bedeutet der Versorgungsgrad von 128,2 Prozent, dass ein Kinderarzt in Stuttgart für 2405 Mädchen und Jungen im Alter von null bis 18 Jahren zuständig ist. „Auch wenn nie alle dieser potenziellen Patienten gleichzeitig krank sind, kann man der Meinung sein, dass das zu viel ist“, räumt Sonntag ein und ergänzt: „Notfälle werden immer versorgt. Aber es gibt eine Diskrepanz zwischen dem guten Versorgungsgrad, den wir in unserer Statistik ausweisen, und der Tatsache, dass Eltern keine Termine bekommen.“ Dies habe seine Ursache zum großen Teil in der 1993 vom Gesundheitsministerium für jede Region festgelegten Zahl an Arztsitzen. Damals ging es um eine Kosteneindämmung. „Die Zahlen, die wir ausweisen, beruhen auf diesem Kontingent. Sie spiegeln nicht wider, was wir für eine gute ärztliche Versorgung brauchen“, sagt Sonntag. Zu ändern sei das nur auf politischer Ebene. „Es gibt Kapazitätsengpässe.“ Sonntag betont aber auch, dass das nicht nur Flüchtlingsfamilien betreffe. Dies mache die Sache aber nicht besser. Neuzugezogenen Familien rät er, beim Thema U-Untersuchung und Kindergarten-Eingangsuntersuchungen den Kreis der Suche zu erweitern.

Kassenärztliche Vereinigung verweist auf Telemedizin

Wer ein krankes Kind hat, aber keinen Arzt, kann sich an die Kassenärztliche Vereinigung wenden. Sie bietet unter der Überschrift „Doc Direct“ Telemedizin an. „Wir verbinden die Eltern telefonisch mit einem realexistierenden Kinderarzt. Wenn bei diesem Gespräch herauskommt, dass das Kind zu einem Arzt sollte, dann besorgen wir für den selben Tag einen Termin in einer Praxis in Stuttgart“, erklärt Sonntag das System.