Assistenzärztin Anxhela Muça: Der Traum vom Medizinstudium brachte die 28-jährige aus Albanien über Berlin und Rostock nach Sindelfingen Foto: /Stefanie Schlecht

Im Ärztebereich und in der Pflege – ausländische Fachkräfte sind im Klinikalltag nicht mehr wegzudenken. Welche Bedeutung haben sie für den Klinikverbund? Weshalb ziehen Fachkräfte weg aus ihren Heimatländern und kommen in den Kreis Böblingen?

Herbst 2023: Der 25-jährige Rayen Khammassi steht vor einer wegweisenden Entscheidung. Lässt der studierte Krankenpfleger sein Leben in Tunesien hinter sich und zieht nach Deutschland oder bleibt er in seiner Heimatstadt Bizert ganz im Norden des Landes?? 14 Tage dauert die Entscheidung, dann steht fest: „Ich möchte nach Deutschland ziehen und in dem fremden Land von null beginnen.“ Sein Ziel: Ein Krankenhaus, in dem der Pfleger mit seiner dreijähriger Berufserfahrung Arbeit finden kann.

 

Schon im November 2023 bricht er auf ins unbekannte Deutschland, genauer gesagt nach Böblingen – ganz ohne Familie und ohne Freunde. Eine Vorstellung davon, wie es sich in Deutschland arbeiten und leben lässt, hatte Rayen Khammassi nicht. Als klar war, dass er im Klinikverbund Südwest (KVSW) über eine gezielte Rekrutierung eine Anstellung finden würde, widmete er sich voll und ganz der deutschen Sprache. „Ich arbeitete nur noch Nachtschicht im Krankenhaus, sodass ich tagsüber lernen konnte. So erreichte ich das für ein Visum benötigte B1-Niveau“, sagt der heute 27-Jährige.

Rayen Khammassi hat auf der Inneren eine neue Heimat gefunden /Stefanie Schlecht

Seit über einem Jahr lebt der Tunesier nun in Böblingen. Die Station der Inneren Medizin wurde für ihn schon zu einer Art Heimat: „Ich fühle mich sehr wohl hier. Ich mag den Kontakt mit meinen Kollegen und den Patienten. Und mir gefällt, dass ich mein Deutsch verbessern kann. Mittlerweile verstehe ich sogar einige Worte Schwäbisch.“ Eine Rückkehr nach Tunesien kann er sich nicht vorstellen.

Fachkräfte wie Khammassi sind gefragt, ja: unabdingbar für das Aufrechterhalten des Klinikbetriebs. Um den Bedarf zu decken, sucht der Verbund gezielt im Ausland: „Wir rekrutieren vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und der demografischen Entwicklung sowohl in, als auch außerhalb Europas. Wir arbeiten mit spezialisierten Agenturen zusammen, die uns unterstützen“, sagt ein Unternehmenssprecher.

Rund 100 Pflegekräfte seien das im Jahr. Mehr als 1300 Mitarbeiter mit ausländischer Staatsangehörigkeit sind insgesamt im Klinikverbund mit seinen Standorten Böblingen, Sindelfingen, Herrenberg, Leonberg, Nagold und Calw angestellt, darunter 105 Ärzte und 437 Pflegekräfte.„Unsere ausländischen Fachkräfte sind ein unverzichtbarer Teil unserer Teams“, sagt ein Sprecher.

Auf Eigeninitiative nach Deutschland ausgewandert

Zu dieser stark umworbenen Gruppe gehört auch Anxhela Muça, 28-jährige Ärztin im Klinikum Sindelfingen. Seit Februar 2024 arbeitet die Albanerin in der Kardiologie. Ihr Weg nach Deutschland war kein einfacher: „Nach meinem Abitur 2014 in Albanien wollte ich in Deutschland studieren. Ohne Deutschkenntnisse ging ich dann nach Berlin, lernte dort die Sprache. Mein Ziel war immer, Medizin zu studieren“, sagt die Assistenzärztin heute.

Ihr Studium absolvierte Muça in Rostock, der Liebe wegen zog sie in den Raum Stuttgart. „Ich habe eine Stelle in Sindelfingen entdeckt und mich beworben. Der Klinikverbund hat sofort geantwortet und mir die Stelle angeboten“, sagt die Medizinerin, die über eine Blaue Karte – eine Aufenthaltskarte für Menschen mit besonders hoher Qualifikation – in Deutschland lebt. Gerne würde sie sich einbürgern lassen, nach elf Jahren rechtlich kein Problem. Wenn nur die berüchtigte deutsche Bürokratie nicht wäre: „Der Prozess dauert über ein Jahr“, sagt sie.

Das Zusammenspiel von im Ausland geborenen und deutschen Fachkräften, die das System ohnehin tragen, funktioniere gut, wie Muça und Khammasi unabhängig voneinander bestätigen. „Alle lernen voneinander, denn die Erfahrungshorizonte und Mentalitäten sind unterschiedlich“, sagt Muça. Dennoch bringt ein Mix aus Nationen auch Herausforderungen mit sich. „Beide Seiten, die ausländischen wie die deutschen Kollegen, leisten über ihre fachliche Arbeit hinaus viel persönlichen Einsatz zur Integration, Offenheit und Teamgeist“, sagt ein Sprecher. Vor einer Anstellung seien große Anstrengungen notwendig, um die sozialen wie auch die fachlichen Voraussetzungen zu schaffen.

Niedrigere Deutschkenntnisse sind keine Lösung

Von der Idee, Personal mit geringeren Sprachkenntnissen zu akquirieren, um das Gesundheitssystem am Laufen zu halten – davon hält Anxhela Muça wenig: „Den Ärztemangel muss man beheben durch attraktivere Jobs, einer flexibleren Bürokratie und mehr Studienplätze. Die Sprache ist dabei wichtig und ich glaube nicht, dass es förderlich wäre, die Deutschanforderungen nach unten zu schrauben.“ Ein Ansturm von jungen Pflegekräften und Ärzten ist kaum zu erwarten. Der Klinikverbund wird weiter nach ausländischen Kräften suchen – intensiv.