Wie aus der Tübingerin Lisa Federle nach einer schwierigen Jugend Deutschlands bekannteste Notärztin wurde.
Die Coronapandemie und die von ihr entwickelte und als „Tübinger Weg“ bekannt gewordene Teststrategie haben aus Lisa Federle (60) Deutschlands bekannteste Notärztin gemacht. Dabei hatte sie es alles andere als leicht im Leben: Mit 17 war sie im Elternhaus unerwünscht, mit 19 zweifache alleinerziehende Mutter und ohne Schulabschluss. Wie sie ihr eigenes Leben in den Griff bekommen und zahllosen anderen Menschen geholfen hat, erzählt Lisa Federle beim Interview in ihrem Tübinger Haus.
Frau Federle, wenn man in Ihrem Buch liest, welches Programm Sie täglich absolvieren, kriegt man schon vom Lesen ein Erschöpfungssyndrom.
Viele Menschen sagen, dass sie niemanden kennen, der so viel arbeitet wie ich. Ich habe meine Praxis, nebenher die Tests durchgeführt und von einer japanischen Zeitung bis zum „Wall Street Journal“ Interviews gegeben. An den meisten Tagen habe ich von 8 bis 23 Uhr gearbeitet. Jetzt gehe ich es aber langsamer an.
Das gelingt?
Ja, das gelingt. Es ist nicht so, dass ich dauernd arbeiten muss, sondern ich kann durchaus mal 14 Tage lesen, am Strand liegen, spazieren gehen, mir schöne Dinge angucken und kochen. Auch so finde ich mein Leben toll und spannend.
Und trotzdem war Ihr Leben in Phasen ein permanentes Schlafdefizit.
Ja, bestimmt 20 Jahre lang oder noch länger. Meine Nächte hatten meist drei oder vier Stunden und die oft nicht mal am Stück. Ich hatte nachts im Schnitt bestimmt fünf Notfälle, um die ich mich kümmern musste.
Sie wissen, dass das ungesund ist?
Natürlich (lacht).
Ist man nicht irgendwann völlig platt, wenn man immer nur drei oder vier Stunden pro Nacht schläft?
Ich war schon öfter platt, auf der anderen Seite glaube ich, dass man sich an so etwas gewöhnen kann. Und die Menschen brauchen ja auch unterschiedlich viel Schlaf. Ich habe jahrelang wirklich nur wenig gebraucht, inzwischen benötige ich auch wieder mehr Schlaf. So war das aber schon, als ich auf dem Abendgymnasium das Abitur nachgemacht habe. Da war ich bis spätabends in der Schule und habe anschließend noch Hausaufgaben gemacht.
Das muss man erst mal hinkriegen.
Dabei hilft mir, dass ich durch das Abendgymnasium und die Kinder gut organisieren kann und Sachverhalte schnell begreife, was man als Notärztin natürlich auch braucht. Da kommt man in ein Zimmer und muss innerhalb einer halben Minute wissen, was Sache ist. Das kann in solchen Situationen über ein Leben entscheiden. Hilfreich ist auch, dass ich ein ziemlich fotografisches Gedächtnis habe und es gut hinkriege, drei Sachen gleichzeitig zu machen.
Zusätzlich haben Sie im letzten Jahr auch noch genauso oft in einer Talkshow gesessen wie Olaf Scholz. Hat das Ihr Leben verändert?
Eigentlich nicht, außer dass ich noch mehr im Stress war und immer aufpassen musste, dass ich rechtzeitig in die Praxis komme, und das Telefon von morgens bis abends ununterbrochen geklingelt hat. Meine Mailbox läuft ständig über – ich habe immer noch über 1000 Mails, die ich noch nicht mal geöffnet habe (zeigt ihr Handy mit 1137 „neuen“ Mails).
Verraten Sie mir, wie oft Sie schon geimpft und genesen sind?
Ich habe bis heute noch nicht Corona gehabt – auch nicht still und leise, weil ich das kontrolliert habe und die Antikörper habe bestimmen lassen. Und ich bin dreimal geimpft.
Vor 40 Jahren war nicht nur Corona weit weg, sondern auch Lisa Federle weit davon entfernt, eine angesehene Ärztin und gefragter Talkshow-Gast zu sein. Mit 19 waren Sie Mutter zweier Kinder, deren Vater ein gewalttätiger Junkie war. Sie hatten keinen Schulabschluss und waren zu Hause rausgeflogen. Nicht gerade die ideale Startrampe für ein erfülltes Leben. Wie verzweifelt waren Sie damals?
Teilweise schon sehr. Ich hab als 16-Jährige noch mit Puppen gespielt und mit 17 war ich dann schwanger. Ich war kein frühreifes Kind oder Jugendliche, ich kannte die Welt überhaupt nicht und hab mich deswegen gefühlt wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Das war besonders schwierig, weil ich in einer scheinbar heilen, pietistischen und sehr begrenzten Welt groß geworden bin und zum Beispiel mit Drogen überhaupt nichts zu tun hatte. Von einer Welt in eine andere zu wechseln, ist aber nicht so einfach, weil es einen heimatlos macht.
Sie waren ja derart mittellos, dass Sie Lebensmittel geklaut haben und Ihnen der Strom abgestellt wurde.
Und das waren keine Luxusartikel. Ich habe Brot und Käse geklaut, nicht etwa Chips oder Schokolade. Es ging darum, dass ich etwas zu essen hatte. Das war wirklich schlimm – auf der anderen Seite bin ich überhaupt nicht verbittert. Ich glaube sogar, es ist gar nicht schlecht, so etwas mal erlebt zu haben, weil ich dadurch nie vergessen habe, wie es in einer solchen Situation ist. Ich habe bis heute absolut Verständnis für Menschen, denen es nicht gut geht. Deswegen kann ich heute nicht nur gut mit Professoren, sondern auch mit Obdachlosen.
Was hat Ihnen geholfen?
Die Bücher haben mich gerettet. Nachdem mein Vater gestorben war, habe ich ein Buch nach dem anderen gelesen. Alles, was ich in die Finger kriegen konnte. Irgendwann konnte ich nur noch die Bücher meiner Oma vom Dachboden holen, die noch in Sütterlinschrift geschrieben waren. Egal, ich habe einfach alles gelesen. Am Ende habe ich sogar in der Schule in dieser Schrift geschrieben, die ich ja eigentlich gar nicht gelernt hatte – was meinen Sie, wie die Lehrer da geguckt haben? Die konnten das teilweise gar nicht lesen (lacht).
Ihr Vater ist gestorben, als Sie elf waren, und Sie schreiben in Ihrem Buch: „Es war der traurigste Tag in meinem Leben.“
Ich war das einzige Mädchen von fünf Kindern und der absolute Liebling meines Vaters, er war immer stolz auf mich. Er war Englischlehrer, später Professor. Ich habe viel von ihm gelernt. Meine Mutter hatte dagegen einen engeren Bezug zu ihren Söhnen.
Ihre Mutter war sehr religiös und hat Sie, wie Sie schreiben, zum Gespött der anderen Kinder gemacht.
Diesen Pietismus finde ich noch schlimmer, noch extremer als strengen Katholizismus. Als ich in die Pubertät kam, hatten alle Jeans, durften einen Tanzkurs machen, die Mädchen schnitten sich die Haare, hatten tolle Frisuren, schminkten sich – und ich kam mit selbst geschneiderten Kleidern, die eins zu eins die Abbildung der Kleider meiner Mutter waren, hatte knielange Röcke und musste Zöpfe tragen. Aus dieser Situation wollte ich raus, bin dann irgendwann der Klassenclown geworden und später sogar mal Klassensprecherin. Das war meine Art, mich zu wehren.
Was hat Ihre Mutter dazu bewogen, Sie zu Hause rauszuwerfen?
Ich glaube, es war ihre Hilflosigkeit. Ich sollte abends um sechs zu Hause sein, durfte auf keine Party, meine Mutter ist zu jedem Klassenausflug mitgegangen und wenn ich einen Liebesbrief von einem Jungen bekam, musste ich den zurückgeben. Ich bin dann aber jeden Abend rausgegangen und nachts spät nach Hause gekommen. Eines Abends hat sie dann meine Sachen in zwei Plastiktüten gepackt, aus dem Fenster geworfen und mir gesagt, dass ich nicht mehr zu kommen brauche. Kurz danach bin ich schwanger geworden.
Sie beschreiben in Ihrem Buch viele Menschen mit Offenheit – wie zum Beispiel Ihre langjährige Beziehung zu Rezzo Schlauch. Nur von Ihrem Mann erfährt man kaum mehr, als dass er Michael heißt. War das sein Wunsch?
Ja. Mein Mann ist CEO einer Pharmafirma, die weder Medikamente noch Tests herstellt, sondern Plasmaprodukte. Er ist per se jemand, der sich nicht gern in der Öffentlichkeit zeigt – wenn Sie ihn googeln, werden Sie nicht viel über ihn finden. Und er hat mich darum gebeten, nicht so viel über ihn zu schreiben. Das habe ich natürlich respektiert.
Was ist Ihnen neben dem Beruf noch wichtig im Leben?
Die Familie, sie ist meine absolute Basis. Es war nicht einfach für mich, so jung Kinder zu kriegen. Ich war nur auf ganz wenigen Konzerten, kaum im Kino und als Studentin nur selten auf Partys. Wenn andere in die Disco gegangen sind, habe ich zu Hause gesessen, Windeln gewechselt und überlegt, wo ich das Joghurt für meine Kinder herkriege. Aber ich habe im Laufe der Jahre durch die Familie so eine tolle Basis bekommen, die für mich ein echter Rückhalt ist. Ich habe ein sagenhaftes Verhältnis zu meinen Kindern, das hat mich aufgefangen. Heute werde ich für die schwierige Zeit mehr als belohnt. Daher kommt auch mein Optimismus: Im Grunde hat alles, was mal furchtbar war, am Ende etwas Positives.
Zur Person
Biografie
Die Medizinerin wird am 31. Juli 1961 in Tübingen geboren. Mit 17 wird sie zum ersten Mal schwanger, mit 19 bringt sie ihr zweites Kind zur Welt. Als sie die Drogensucht des gewalttätigen Vaters bemerkt, trennt sich Federle von ihm. Mit 30 macht sie ihr Abitur. Sie wird zum dritten Mal Mutter, heiratet und studiert Medizin. Ein Jahr vor dem Examen bringt sie ihr viertes Kind zur Welt und schließt als 37-Jährige ihre Promotion zum Thema Alkoholismus mit „sehr gut“ ab.
Autobiografie
Bei Knaur erscheint nun ihre Biografie „Auf krummen Wegen geradeaus“.