Stuttgart droht in den kommenden fünf Jahren ein Hausärztemangel: Rund ein Drittel der Ärzte könnte in diesem Zeitpunkt in Rente gehen. Foto: Photographee.eu/Fotolia

In fünf Jahren geht ein Drittel aller Hausärzte in Stuttgart in den Ruhestand. Experten warnen vor einem bevorstehenden Mangel in der hausärztlichen Versorgung. Warum fehlen Hausarzt-Nachfolger? Dieser Frage gehen wir zum Auftakt unserer Serie nach.

Stuttgart - Stuttgart droht in fünf Jahren ein Hausärztemangel. Experten auf allen Ebenen sehen nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Stadt Handlungsbedarf. Sie bezeichnen den Hausarzt als Auslaufmodell.

Die Ausgangslage

35,6 Prozent der 390 Hausärzte sind älter als 60. Sollten diese in fünf Jahren in den Ruhestand treten, würde sich die medizinische Versorgung in Stuttgart erheblich verschlechtern. Besonders da der Nachwuchs fehlt: „Wir haben nicht nur im ländlichen Raum zu wenig Mediziner, sondern auch in Stuttgart“, warnt Dr. Johannes Fechner, stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), die für die Sicherstellung der ambulanten ärztlichen Versorgung zuständig ist.

Schon jetzt gibt es laut KV 24 freie Hausarztsitze in Stuttgart. Akut ist die Lage schon in Stammheim, Zuffenhausen und Weilimdorf. Diese Quartiere gelten als Brennpunkte, weil gerade ältere Patienten ihren Arzt nicht mehr zu Fuß erreichen können. „Wir können die Ärzte nicht in die Gegenden zwingen, in denen sie gebraucht werden. Wir haben keine Arztdienststeuerung“, sagt Fechner.

Die Gründe

Gemeinhin werden sechs Ursachen für die drohende Unterversorgung ausgemacht:

Bedarfsplanung: Eine Ursache sieht der KV-Vize in der umstrittenen Bedarfsplanung des früheren Gesundheitsministers Horst Seehofer aus dem Jahr 1992. Damals wollte der CSU-Politiker eine Ärzteschwemme verhindern: „Die Maßnahmen waren so wirksam, dass wir jetzt in den Ärztemangel hinein laufen“, sagt Fechner.

Arbeitsaufwand: Während niedergelassene Fachärzte durchschnittlich 49 Stunden pro Woche arbeiten, geht man bei einem Hausarzt von einer 51-Stunden-Woche aus. „Wirtschaftlich lohnt es sich für mich nur, wenn ich weit mehr als acht Stunden am Tag arbeite“, sagt Dr. Markus Klett, Vorsitzender der Ärzteschaft Stuttgart.

Doch junge Ärzte bevorzugen laut Klett geregelte Arbeitszeiten. „Hausärzte, wie man sie früher kannte, sind Auslaufmodelle“, sagt auch Fechner.

Verdienst: Durchschnittlich verdient ein Hausarzt 5726 Euro netto pro Monat. Umgerechnet wären das 28,82 Euro Stundenlohn. Im Vergleich dazu verdient der Facharzt 30 Euro pro Stunde. Fechner kritisiert das: „Es ist absurd, aber je weiter weg der Arzt vom Patienten arbeitet, desto besser verdient er.“

Deshalb würden viele Mediziner lieber in lukrativeren Bereichen wie beispielsweise der Radiologie arbeiten. Seit 2008 bietet die AOK Baden-Württemberg gemeinsam mit dem Hausärzteverband Baden-Württemberg und dem Medi-Verbund individuelle Verträge ohne Beteiligung der KV an. Diese Vergütung liegt derzeit im Durchschnitt um 30 Prozent höher als eine vergleichbare Honorierung durch die Kassenärztliche Vereinigung.

Unternehmerisches Risiko: Viele Mediziner scheuen den Schritt in die Selbstständigkeit: „Man wird im Studium nicht auf die betriebswirtschaftlichen Aspekte vorbereitet“, sagt Klett. Junge Mediziner bevorzugen oft ein Angestelltenverhältnis, beispielsweise in der Klinik.

„Mehr als die Hälfte der Mediziner, die im vergangenen Jahr neu angefangen haben, sind Angestellte“, sagt Fechner. Hindernisse für eine eigene Praxis seien oft Investitionskosten zwischen 200 000 und 250 000 Euro und mögliche Abstandszahlungen an den Vorgänger, die in Stuttgart zwischen 60 000 und 80 000 Euro liegen.

Image: Bei den Patienten ist der Hausarzt immer noch hoch angesehen, doch unter den Kollegen hat er ein schlechtes Image. Das beginnt schon während der Ausbildung: „An den Universitäten wird ein Student ausgelacht, wenn er Allgemeinmediziner werden will“, kritisiert Klett. Fechner schlägt deshalb vor, den Studenten die Qualität des Hausarztes zu vermitteln: „Der Hausarzt ist die Königsdisziplin – vergleichbar mit dem Zehnkampf in den Leichtathletik.“

Unattraktives Stuttgart: In einer Befragung von 9000 jungen Medizinern kam heraus: Großstädte wie Stuttgart sind für die Berufsanfänger unattraktiv. Sie bevorzugen Städte mit einer Größe zwischen 10 000 und 35 000 Einwohnern. Offenbar erwarten sie sich dort mehr Vorteile im Alltag. In der Umfrage werden folgende Punkte genannt: ein Arbeitsplatz für den Lebenspartner, die Schulsituation und Kitaplätze.

Die Therapie

Fechner hat zwei Therapieansätze gegen den Ärztemangel: Er glaubt, dass die Grundversorgung nicht mehr nur von Ärzten, sondern von sogenannten Versorgungsassistenten geleistet werden könne. Gemeint sind damit Arzthelferinnen, Ernährungsberater oder andere Fachkräfte.

Jene werden hauptsächlich in Versorgungszentren oder Gemeinschaftspraxen zum Einsatz kommen. Medizinischen Versorgungszentren räumt Fechner ohnehin eine große Zukunft ein. Dort könnten sich Ärzte einen Praxissitz teilen und damit auch Kosten sowie Arbeitszeit: „Wir gehen davon aus, dass zwei ausscheidende Ärzte von dreien ersetzt werden.“

Mit Anreizen hätte laut Fechner auch die Stadt Möglichkeiten, dem Trend entgegenzuwirken. Im Sozialgesetzbuch heißt es unter Paragraf 95: „Kommunen können medizinische Versorgungszentren auch in der rechtlichen Rechtsform eines Eigen- oder Regiebetriebs gründen.“ Andere Kommunen schaffen Anreize bei der Praxisneugründung bis hin zur Finanzierung des Medizinstudiums.