Viele S-Bahn-Fahrgäste sind umweltbewusst – mit 100 Prozent Ökostrom kann er aber weiterhin nicht fahren. Foto: Lg/Julian Rettig

Die Komplettumstellung des S-Bahn-Betriebs auf klimafreundlichen Ökostrom schien zum Greifen nah – doch nun hat eine Mehrheit im Regionalparlament die Vertragsunterzeichnung vereitelt. Die Regionalräte von Grünen, SPD und Piraten schäumen vor Wut.

Um den Antriebsstrom für die S-Bahnen in der Region gibt es einen Riesenknatsch: Eine Mehrheit im Verkehrsausschuss der Regionalversammlung hat die Vertragsunterzeichnung für die komplette Umstellung des S-Bahn-Betriebs auf Ökostrom im Juni 2023 in einer nicht öffentlichen Sitzung abgelehnt. Daher warfen die Grünen, die SPD und die Fraktion Linke/Pirat den bürgerlich-konservativen Fraktionen am Mittwoch vor, gegen einen einstimmigen Zielbeschluss bei den Etatberatungen im Jahr 2021 verstoßen zu haben.

Der Ärger braute sich am Mittwochmittag zusammen. Da wurde die Entscheidung in einer früheren Sitzung des Verkehrsausschusses bekannt, die Vertragsunterzeichnung zu kippen, der das Regionalparlament kommende Woche zustimmen sollte. Umgehend formierte sich Protest.

Grüne sehen Verwaltung düpiert

Der Grünen-Fraktionsvize Philipp Buchholz sprach von einer „konspirativen Aktion“, mit der besonders die CDU/ÖDP-Fraktion monatelange intensive Verhandlungen der Verbandsverwaltung mit der für den S-Bahn-Betrieb zuständigen Deutschen Bahn über den Haufen geworfen habe. Die CDU/ÖDP habe den Regionalverband insgesamt und die „Hausspitze“ ohne wirkliche Warnsignale ins Messer laufen lassen. Sie habe sich unter Mithilfe der Freien Wähler, der FDP und der AfD von der Haushaltsentscheidung im vergangenen Jahr abgesetzt. Die Kreisvorsitzenden der Grünen, Amelie Montigel und Florian Pitschel, hieben in dieselbe Kerbe. Es sei ein Schlag ins Gesicht all derer, die den öffentlichen Nahverkehr nutzen, weil sie sich klimafreundlich fortbewegen wollten. Stuttgarts OB Frank Nopper (CDU) müsse namens der Landeshauptstadt die Notbremse ziehen.

Kostenargument nur vorgeschoben?

Der SPD-Fraktionschef Thomas Leipnitz sagte verärgert, wenn die Gegner des Ökostrom-Beschlusses plötzlich hohe Zusatzkosten problematisierten, handle es sich um ein vorgeschobenes Argument. Die Energiemärkte seien in Bewegung, niemand wisse, ob der Ökostrom dauerhaft teurer sein werde als klimaschädlicher Strom. Im Moment geht es um rund eine Million Euro zusätzlich pro Jahr. Christoph Ozasek, Fraktionschef der Riege Linke/Pirat, warf der Ökologisch Demokratischen Partei (ÖDP) vor, sie trage die „schmutzige Energiepolitik der CDU“ mit. Die Mehrheit verpasse den S-Bahnen weiter Braunkohlestrom. Die Nachhaltigkeitsagenda des Verbandes Region Stuttgart (VRS) sei infrage gestellt.

Die CDU lässt die Kritik an sich abperlen. Roland Schmid sagte unserer Zeitung am Mittwochabend, es würde ja niemand bemerken, wenn für die S-Bahnen Ökostrom eingesetzt würde, der dem VRS pro Jahr einen Zusatzaufwand in Millionenhöhe bescheren würde. Außerdem, argumentiert die CDU, würde allein mit dem Kauf von Ökostrom für die S-Bahnen „keine Kilowattstunde Mehrproduktion von Ökostrom“ erreicht. Am Rande einer Ausschusssitzung am Mittwoch legte die CDU einen Antrag vor, dass der VRS ein „regionales Förderprogramm zur Erzeugung alternativer Energien“ ausloben soll. Förderfähig sollen regionale Projekte der Stromerzeugung sein, die einen Bezug zu den inhaltlichen Aufgaben des VRS herstellen, etwa zum Betrieb von P&R-Anlagen – oder auch zum Bereich S-Bahn.

ÖDP-Regionalrat Mathias Rady wies am Donnerstag die Vorwürfe der Ökostrom-Verfechter zurück und warf ihnen eine „undurchdachte PR-Aktion“ vor: Die Bahn hätte zusätzliches Geld vom VRS kassieren können, jedoch einfach Ökostrom, der bisher im Regionalverkehr eingesetzt werde, für den S-Bahn-Betrieb verrechnen können, ohne mehr Ökostrom zu kaufen.

Der Ärger bahnte sich schon 2021 an

Die Vorgeschichte: Der Verband als Aufgabenträger der S-Bahn rang sich im Herbst 2021 zur Prüfung des 100-prozentigen Einsatzes von Ökostrom durch und peilte Verhandlungen mit der DB an. Zu dem Zeitpunkt wurde etwa zu 61 Prozent Ökostrom eingesetzt. Beim Rest handelte es sich um Strom aus der Verbrennung von Kohle und Erdgas sowie aus Kernenergie. Doch schon im November 2021 lehnte eine Mehrheit den Antrag von Grünen, SPD und Linke/Pirat ab, eine „Anschubfinanzierung“ von einer Million Euro bereitzustellen. Die Mehrheit wandte sich gegen eine feste Zahlung. Die Verwaltung wurde mit Verhandlungen beauftragt, damit die DB den Bezug umstellt.