Das Maßband trägt Ahmed Can Bilir zur Arbeit wie andere die Krawatte. Foto: Ines Rudel

Auf Ahmet Can Bilir ruht viel Verantwortung. Er nimmt Maß für die örtlichen Bankvorstände, rettet Stofftiere, kaschiert Hüftgold und bügelt Online-Fehlkäufe aus. Von seiner Sorte gibt es nicht mehr viele.

Man braucht sich nicht zu schämen, wenn man bei Schneider Bilir die ein Vierteljahrhundert alte Jeans aus der Tüte zieht, die auf Gesäßhöhe gefährlich dünn geworden ist. „Oh“, sagt er dann lächelnd, „eine Hose unter Denkmalschutz.“ Als Ladeninhaber in der historischen Esslinger Altstadt ist dem Türken dieser Begriff seit seiner Ladeneröffnung vor 21 Jahren vertraut. Auf die Frage, ob da noch was zu machen sei, begutachtet er die Schwachstelle der abgewetzten Denim, murmelt etwas von einem Stoff, den er von innen mit vielen Zickzack-Stichen aufnähen könnte und sagt dann grinsend: „Kein Problem, hundert Euro, abholen bitte heute in einem Jahr.“

 

Auf Ahmet Can Bilir, dem „Tapferen Schneiderlein“, wie er sich und seinen Betrieb nennt, ruht große Verantwortung. Die ganze Chefetage der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen verlässt sich auf sein Händchen. Er sorgt dafür, dass die Hosenbeine der Vorstände bei der Hauptversammlung die richtige Länge haben und mit einem leichten Knick über dem Schuh enden. Er verhilft Hochzeitsroben, die nach einmaligem Tragen im Kleiderschrank verstauben, zwei Generationen später zu einem Revival. Kinder bringen ihre Stofftiere zum Flicken, Teenager ihre Rucksäcke, wenn der Reißverschluss den Geist aufgibt, Männer ihre morsch gewordenen Bikerjacken.

Can Bilir hat fast immer eine Lösung. Täglich rettet er Liebgewonnenes oder macht Mode passend für Menschen mit atypischen Konfektionsgrößen oder schwankendem Gewicht. Beim Kögel, dem größten Modehaus am Platz, gilt Ahmet Can Bilir als tragende Säule.

Gewerbe ist meist in Händen von Schneidern mit Migrationshintergrund

Gisela Mayer gehört zu seinen treuesten Kunden, sie und ihre gesamte Verwandtschaft. „Bilir, guck mal, bei meiner Jacke geht die Kapuze nicht mehr dran“, sagt sie ein wenig aufgeregt. „Kein Problem. Ich mach neuen Zipper. Dann Baustelle fertig. Glücklich?“ – „Wunderbar. Bis wann?“ – „Heute in einem Jahr.“ – „Ach Bilir.“ Sie geht lachend aus der Tür.

Obwohl Änderungsschneider wie Ahmet Can Bilir aus Esslingens Geschäftsleben nicht wegzudenken sind, muss man für den Beruf seit 2003 keine Prüfung mehr ablegen. „Jeder, der sich eine Nähmaschine zulegt, kann eine Änderungsschneiderei eröffnen“, sagt die Landesinnungsmeisterin Birgit Brodbeck mit Bedauern. Zwar gibt es noch eine Ausbildung, aber weil die Betriebe einen Mindestlohn an ihre Lehrlinge bezahlen müssen, bildet kaum noch einer aus. „Früher zahlte man 250 Euro im ersten Lehrjahr, heute sind es mit Lohnnebenkosten fast 1000. Wer kann das stemmen?“, klagt Brodbeck. Laut Handwerkskammer gibt es in der Region Stuttgart nur noch zwei Ausbildungsbetriebe und aktuell eine Person, die sich zum Änderungsschneider ausbilden lässt. Was zur Folge hat, dass die Zahl der Änderungsschneidereien von knapp 600 im Jahr 2010 auf aktuell 375 Betriebe gesunken ist und die verbliebenen weitgehend von Schneidern mit Migrationshintergrund geführt werden. Von Menschen wie Ahmet Can Bilir.

Seine erste Nähmaschine war eine Industriemaschine aus Hartguss der Marke Juki. „Japanische Firma, sehr robust“, sagt Bilir anerkennend. Am Eingang seines Ladens hängt ein gerahmtes Foto von ihr. Hinter der Maschine sitzt ein schüchtern lächelnder Junge, der gerade an einer schwarz schimmernden Bluse näht. Zwölf Jahre alt sei er damals gewesen, als er bei einem Schneider in Istanbuls Stadtteil Beşiktaş in die Lehre ging – auf Anordnung der Mutter. Dafür sei er ihr bis heute dankbar, auch wenn das Gesetz eigentlich eine längere Schulzeit vorschreibt. Denn damals sei er lieber mit Freunden durch die Stadt spaziert als zur Schule gegangen. Dass sein Vater Rechtsanwalt war und alle Geschwister studiert haben, das habe ihn nie gestört. „Wenn alle studieren, wer ist denn dann der Schneider?“

Ein Mal mit der Nadel durch den Finger

Über zehn Jahre lang blieb er bei seinem Meister. In den ersten fünf durfte er nur putzen, bügeln, Tee kochen, Botengänge machen und ansonsten dem Meister über die Schulter schauen. Er erinnert sich noch gut an den erhebenden Moment, als er das erste Mal auf das Antriebspedal der Nähmaschine treten durfte. Er hatte dem Sohn des Meisters, der ebenfalls das Handwerk lernte und Privilegien genoss, Haselnüsse vom Schwarzen Meer mitgebracht. „Dafür ließ er mich an seinen Platz.“ Der Meister selbst nahm sich seiner erst an, als Bilir sich die Nadel durch den Finger gejagt hatte. Er zog sie mit einer Zange raus und sagte dann feierlich zu seinem Lehrling: „Das passiert dir nur ein Mal. Jetzt kannst du ein Meister werden.“

„Hallo tapferes Schneiderlein!“ Ein Ehepaar kommt zur Tür herein. Bilir schaut auf. „Urlaub schon fertig? Deutsche immer im Urlaub. Katastrophe!“ Er reicht dem Mann eine Wolljacke mit indigenen Mustern, gereinigt und repariert. „Diese hier vom Urlaub im Himalaja.“ Der Mann möchte noch Small Talk machen: „Schneiderlein, was sagst du zur Türkeiwahl?“ Bilir macht ein erschrockenes Gesicht. „Lieber nix reden über Politik.“

Als er mit 24 Jahren von Istanbul nach Berlin zog, sprach er kein Wort Deutsch. Tagsüber putzte er Fenster im KaDeWe, abends saß er an der Nähmaschine. Ein türkischer Nachbar kam immer zum Übersetzen, wenn Kunden beschrieben, was gemacht werden sollte. Eine Weile besuchte er einen Deutschkurs. „Katastrophe“, erinnert er sich – der Ausdruck scheint einen festen Platz in seinem Wortschatz zu haben.

Weil es wirtschaftlich nicht recht voranging, zog er 2002 noch mal um, dieses Mal nach Esslingen und mit Frau und zwei Kindern. Wieder putzte er Fenster, doch konnte er nun etwas Geld zurücklegen. Als eine Griechin einen Nachfolger für ihre Schneiderei in der Altstadt suchte, ging er mit seinen Ersparnissen zur Bank und bekam einen Kredit, mit dem er ihr das Inventar abkaufte. „Alles altes Zeug“, sagt er. „Heute alles supermodern.“ Er zeigt seinen Maschinenpark: Die Overlock-Maschine nehme er für Kleidersäume, die Juki für dünne Stoffe, die Brother für dicke, dann habe er noch eine Maschine für T-Shirts und elastische Stoffe, eine Knopflochmaschine und eine zum Knöpfeannähen, eine Blindstichmaschine für unsichtbaren Saum, eine Dreifachtransport-Nähmaschine für Leder und, sein ganzer Stolz, ein Bügeltisch mit Absaug- und Gebläsefunktion.

Bilir hat auch schon Kunden zum Orthopäden geschickt

Ein kleiner kräftiger Herr kommt mehr oder weniger grußlos herein und läuft direkt zur Umkleidekabine. „Griechischer Kunde“, sagt Bilir schmunzelnd. Er komme immer zum Hosenkürzen. Heute hat er gleich zwei mitgebracht. Während Bilir die Hosenbeine absteckt, unterhalten sich die beiden in ihrer ganz eigenen Sprache. Hosenkürzen ist am häufigsten gefragt – und komplexer, als man meinen könnte. Mal habe nur ein Schuh eine Einlage („vor allem italienische Fabrikate“), mal seien die Beine der Kunden unterschiedlich lang. Er habe auch schon manchen zum Orthopäden geschickt. Für eine gekürzte Hose nimmt er trotzdem nicht mehr als acht Euro. Mehr seien die Kunden nicht bereit zu bezahlen, sonst lande die Hose im Müll oder bei der billigeren Konkurrenz.

Wenn die Augen müde werden, setzt sich Bilir vor den Laden auf einen Drehstuhl und raucht. So wie die Schneider in Beşiktaş. Heute ist ihm keine Pause vergönnt. „Ah, arabische Kundin“, sagt Bilir, als sich eine junge Dame nähert. „Immer Kleider mit vielen Perlen. Katastrophe!“ Die Kundin hat online ein Hochzeitskleid bestellt, das angepasst werden muss. „Schneider Bilir, der Brautmodenladen will mir nicht helfen. Bitte mach du das. Die Frau sagt, du kannst alles.“ – „Nix mit Maschine möglich. Nur von Hand.“ Die Frau schaut ihn flehend an. Bilir seufzt. „Nächstes Jahr.“

Sein Albtraum: Fehlbestellungen im Internet

Onlinebestellungen haben ihn schon viele Nerven gekostet. Das Schlimmste, was er je erlebt hat: eine Rock-Blazer-Kombination, die eine Frau für 800 Euro bestellt hatte. Sie passte hinten und vorn nicht. Er drückte ihr ein paar Geldscheine in die Hand mit der Bitte, einen anderen Schneider zu suchen. Sie sagte, sie habe schon fünf in Stuttgart abgeklappert. Der letzte habe gesagt, sie solle nach Esslingen fahren zum tapferen Schneiderlein. Hätte sie ihn angemessen bezahlt für die Arbeit, hätte sie dafür das Ensemble gleich noch mal bestellen können. Bilir nahm 200 Euro.

Manchmal sagt er aber auch Nein. Neulich wollte ein Frau, dass er ihre Jeans auf Kniehöhe abschneidet und dann daraus einen Jeansrock näht, vermutlich um Geld zu sparen. Das ging selbst dem tapferen Schneiderlein zu weit.

Mit Augenmaß und Sinn für Ästhetik

Beruf
 Änderungsschneider ändern Kleider nach Kundenwunsch um. Sie kürzen oder verlängern, sie ersetzen Reißverschlüsse oder nähen Knöpfe wieder an. Auch Gardinen, Tischdecken oder andere Heimtextilien machen sie passend. Gefragt sind Augenmaß, Sinn für Ästhetik, Kreativität, geschickte Finger, ein Händchen für Nähmaschinen und andere technische Geräte und Lust auf Kundenkontakt. Da in Deutschland wieder stärker auf Nachhaltigkeit geachtet wird, hofft die Branche darauf, wieder an Bedeutung zu gewinnen.

Ausbildung
 Es gibt eine zweijährige Ausbildung zum Änderungsschneider, die aber nicht zwingend ist. Man absolviert sie bei einem Maßschneider oder in einem Bekleidungshaus. Wer ein drittes Lehrjahr dran hängt, kann den Abschluss als Maßschneider machen.

Verdienst
 Änderungsschneider sind meist selbstständig. Nur wenige sind fest angestellt, etwa in Modehäusern. Der Verdienst ist daher schwer zu beziffern. Vermutlich beginnt er beim Existenzminimum. Bei guter Auftragslage und anspruchsvollen Änderungen etwa von Hochzeitskleidern könne man aber gut davon leben, sagt Birgit Brodbeck. Allerdings gebe es saisonbedingt immer wieder Durststrecken.