Waisenkinder in Afrika: Leider sind es nicht immer nur wohlmeinende Adoptiveltern, die ihnen ein Zuhause geben wollen. Der Menschenhandel ist ein großes Problem in Kenia. Foto: dpa

Anna und Thomas S. reisten Ende November von Stuttgart nach Kenia, um dort "ihr" Kind kennenzulernen, den zweieinhalbjährigen Waisen Byron. Dann passiert etwas Ungeheuerliches: Eine Woche später beschließt die kenianische Regierung, ab sofort keine Auslandsadoptionen mehr zuzulassen. Wie geht es nun weiter?

Stuttgart/Nairobi - "Ich schreibe diese Mail auf dem Bett sitzend und hundemüde...", so beginnt die erste Rückmeldung von Anna S. aus Nairobi am 9. Dezember. Eigentlich sollte die Fortsetzung ihrer Geschichte voller Glücksmomente sein, die erste Begegnung mit dem kleinen Byron, die ersten Erlebnisse als kleine Familie. Doch es kam alles ein wenig anders.

Neun Jahre lang versuchten Anna und Thomas S. aus der Region Stuttgart, ein Kind zu bekommen. Vergeblich. Vor anderthalb Jahren entschlossen sie sich, ein Kind aus Kenia zu adoptieren. Dann kam der Kindervorschlag - die beiden gaben ihre Wohnung in Deutschland auf, ließen sich bei ihren Arbeitgebern für das mehrmonatige Verfahren in Afrika beurlauben, und flogen am 19. November mit Sack und Pack nach Nairobi.

Kurz nach ihrer Ankunft treffen Anna und Thomas Byron zum ersten Mal. Wie diese Begegnung verlief, will Anna beim nächsten Mal schreiben - momentan ist alles noch "ein bisschen viel". Sie und ihr Mann durften Byron schließlich mit zu sich nehmen, auf einem Foto schläft der Zweieinhalbjährige in der angemieteten Wohnung in Nairobi auf einer pinkfarbenen Kuscheldecke, die bedruckt ist mit einem großen grauen Esel.

Eine Woche später wäre es aus gewesen

Dann passiert das unvorhersehbare Ereignis: Am 24. November - knapp eine Woche nach der Einreise - beschließt das kenianische Kabinett, Auslandsadoptionen mit sofortiger Wirkung nicht mehr zuzulassen. Immer wieder wird von illegalem Menschenhandel berichtet, der in Kenia blüht - dem will man nun mit dieser Regelung entgegenwirken.

Allerdings sind diese und andere Maßnahmen, eingeleitet vom kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta, alles andere als transparent: Unter dem Deckmantel des Anti-Terrorkampfes wurden 510 Nichtregierungsorganisationen die Lizenzen entzogen. Ein Auslöser dürfte auch die Unterstützung einiger bei den Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn sein.

"Die kenianische Adoptionsstelle (KKPI), die für uns zuständig ist, hat wohl tatsächlich seit der Entscheidung über Nacht ihre Lizenz nicht mehr. Alle Paare, die noch auf ihren Kindervorschlag warten, haben die Information, dass das erst mal auf unabsehbare Zeit nichts wird und ja, wir hier warten darauf, dass es bald etwas Konkreteres gibt", schreibt Anna. Ihre Zeilen drücken Fassungslosigkeit aus. "Eine Woche später, und wir wären nicht mehr ins Land gekommen!"

Wie es nun weitergeht, ist völlig unklar

Das Paar hat auch Verständnis: "Kenia hat tatsächlich ein großes Problem, was Menschenhandel anbetrifft, und es ist sehr wichtig, dass die Regierung dagegen was macht, aber - wir sind absolut legal unterwegs. Unser Kind ist ein Waisenkind, für das nach den eigenen Eltern geforscht wurde."

Als dafür die vorgeschriebene Zeit verstrichen war, wurde Byron zunächst im Inland zur Adoption freigegeben. Nachdem sich dort keine Familie für ihn fand, wurde er schließlich auch zur Auslandsadoption freigegeben. Noch ist unklar, wie es mit Paaren wie Anna und Thomas weitergeht, die bereits im Land sind und auf die vorgeschriebenen Gerichtstermine am High Court in Nairobi warten.

Die Zentrale Adoptionsstelle in Deutschland ist im Bundesjustizministerium angesiedelt. Auch dort weiß man noch nicht, was passieren wird: "Es gibt noch keine offizielle Klarstellung der kenianischen Regierung", erklärt eine Sprecherin. "Es ist auch damit zu rechnen, dass es bis zu einer solchen Klarstellung noch einige Zeit dauern wird. Die in Kenia vertretenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich gemeinsam an die kenianische Regierung gewandt, um weitere Klärung zu erhalten."

Schwierige Annäherung: Byron reagiert mit Widerstand

Auch ohne diese neuen Hindernisse war es bislang nicht ganz einfach für die drei: "Die erste Zeit hat uns einige Nerven gekostet", schreibt Anna. All die Vorfreude, all die Sehnsucht, mit der Anna und Thomas ankamen, wurde von Byron anfangs nicht  in der Weise erwidert. Meist war sogar das Gegenteil der Fall. "Er hat uns getestet", glauben die beiden, mit Schreien, mit Widerstand, "in jeder erdenklichen Situation". "Machen wir etwas falsch?", fragten sich Anna und Thomas.

Den Esslinger Pädagogen Andreas Weber, der auch Familien mit Adoptiv- und Pflegekindern betreut, überrascht das nicht. Die anfängliche Rebellion ist seiner Ansicht nach eine recht normale Reaktion: "Das Annehmen der neuen Situation bedeutet eben gleichzeitig, alles Vorangegangene aufzugeben", auch den Verlust der eigenen Eltern zuzugeben. Da müsse ein Kind erst einmal durch.

Anne Schoberth, Psychotherapeutin in Tübingen und selbst Mutter einer Adoptivtochter aus Korea, weiß aus eigener Erfahrungen um die Schwierigkeiten, die Adoptionen im Alltag einer Familie mit sich bringen. Je nach den Vorerfahrungen der Kinder, die immer ein schweres Trennungstrauma einschließen, sind diese unterschiedlich ausgeprägt. "Mit Abwehr sind immer auch Ängste verbunden. Die Eltern müssen sich mit der Wut auseinandersetzen und dem Kind zeigen, dass sie in jeder Situation zu ihm stehen."

Charakter entscheidet, wie Adoptivkinder ihr Schicksal meistern

Bei Kindern aus anderen Kulturkreisen komme später noch das andere Aussehen dazu. Ab etwa drei Jahren realisierten die Kinder, dass sie sich äußerlich vom Rest der Familie ganz markant unterscheiden. Die kritische Phase komme dann mit der Pubertät.

Kinder europäischen Aussehens könnten in der Zeit zumindest auch einmal eine Pause einlegen und müssten sich nicht ständig mit ihrer Doppelidentität auseinandersetzen. In Byrons Fall wird es beim täglichen Blick in den Spiegel kein "Entrinnen" geben. "Mit der Doppelidentität können Adoptivkinder auf Dauer nur leben, wenn sie sich damit auseinandersetzen und einen Weg finden, ihr Schicksal positiv anzunehmen", sagt Anne Schoberth. "Darüber entscheidet der Charakter."

In Nairobi verbessert sich die Situation langsam. Byron fasse Vertrauen, "und er fängt an, uns in seine Welt mitzunehmen", lässt Anna in ihrer Mail wissen. Sie und Thomas haben in dieser Zeit auch neue Freunde gewonnen. Ein Ehepaar, das nur zwei Häuser entfernt wohnt, steckt im selben Dilemma. Ihr Adoptivsohn ist zwei Monate älter als Byron, auch ihr Verfahren ist nun in der Schwebe. "Wir haben nun schon einiges miteinander erlebt, wofür es in anderen Kennenlernphasen fünfmal so lange dauert", berichtet Anna.

Die beiden gehen davon aus, Byron bei sich behalten zu dürfen. "Wir werden das abwarten müssen und geben uns gerade alle Mühe, das auch in Ruhe zu machen", schreibt Anna. Immerhin geht es um ihr Schicksal als Familie: "Wir hoffen, bald mehr zu wissen."