Von der 1973/74 gegründeten Rockband AC/DC ist heute nur noch der Gitarrist übrig. Trotzdem ist der Sound immer noch unverkennbar. „Rock’n’Roll wird niemals sterben“, heißt es in einem ihrer Songs. Am Hockenheimring waren 100 000 derselben Meinung.
Es wird dunkler. Noch sorgen Sonnenstrahlen für Helligkeit auf dem Hockenheimring. 20.25 Uhr. Seit zwei Uhr mittags harren Menschen unmittelbar am Bühnenrand aus. Selbst auferlegte Askese: mehr als acht Stunden ohne Toilettengang. Ohne Abwechslung. Und ohne Reue, denn wenn sie hinter sich blicken, wissen sie: Dieser Anblick allein entlohnt.
Sie starren auf rund 100 000 Köpfe, gleich einer Mulde voll Asseln, mit rot blinkenden Hörnern über den Ohren. Irgendwo dahinten weilen auch einige auf der Tribüne – die sieht man so schlecht von dort vorn. Ein Wahnsinnsbild. Doch die Schwärmerei zerschneidet ein Knall, gefolgt von einem Jubelsturm, gefolgt von abgeschossenen Feuerwerksraketen. Da rennt ein Mann in kurzen Hosen auf die Bühne und lässt seine zig-fach verstärkten Gitarrensaiten krachen, einer mit Schiebermütze zwingt das Falsett aus seinen reibenden Stimmbändern, die anderen drei an Bass, Rhythmusgitarre und Schlagzeug breiten den Klangteppich aus: AC/DC. Rock’n’Roll.
Lediglich Angus Young, der Gitarrensatan, der Rock-Besessene, der Unexorzierbare, ist noch übrig von den Jungs, die sich zum Jahreswechsel 1973/74 formierten, um zum Paradebeispiel des Rockbandbegriffs zu avancieren. Der Name dieser Gruppierung mit dem elektrischen Klang warf einen Schatten voraus: Ihr Sound blieb unverkennbar, weil nie variiert – das Ewiggleiche besteht dem Formationswechsel zum Trotz. Wechselstrom und Gleichstrom. Im Englischen spricht man von „alternating current“ respektive „direct current“. AC/DC. „Rock’n’Roll ain’t gonna die“, heißt es in einem ihrer Songs, der Rock’n’Roll wird niemals sterben. Aber wird er alt?
Wie wirkt sich der Ausfall von Angus’ Bruder Malcolm Young aus, der nach einem Schlaganfall an Demenz erkrankte? Nach dem Tod des ebenso durchgeknallten wie brillanten Sängers Bon Scott 1980 ist dies das schwerste Unglück der Bandgeschichte. Malcolm war der Motor, Angus der Turbolader. Stevie Young, der Neffe, ersetzt seinen Onkel. Man hört es kaum, aber man bemerkt es doch: Frontmann Brian Johnson war zwar nie ein großer Quassler, doch beim Hockenheimringkonzert verzichtet er beinahe gänzlich auf Moderation. Den Kollegen hat der Verlust des Bandkopfes aufs Gemüt geschlagen. Die gute Nachricht lautet indes: Ansonsten bleibt alles beim Alten.
Eine flammende Videosequenz auf den Riesenleinwänden eröffnet die Show: Ein Komet, geformt nach dem Konterfei Angus Youngs, brettert durchs Weltall, passiert schwebende Songillustrationen, etwa die Lok des „Rock’n’Roll Train“ oder die besungene Dame aus „Whole Lotta Rosie“ und schlägt schließlich mit Überschall in den fortan lodernden, einst blauen Planeten ein. Glut und Hitze.
„Rock Or Bust“ ertönt, der Song, welcher der aktuellen, von vielen Fans als „Alibi-Album“ akzeptierten Platte den Titel verleiht. Mit „Baptism By Fire“ und „Play Ball“ folgen später noch zwei weitere neue Tracks.
Mühelos lässt sich mit AC/DC-Hits ein Konzertabend füllen, das belegen nicht zuletzt etliche Coverbands. „Hell Ain’t A Bad Place To Be“ und „Dirty Deeds Done Dirt Cheap“ oder „Sin City“ und „Highway to Hell“ heißen sie und funktionieren wie folgt: Johnson quietscht heiser die Zeilen, die Masse grölt den Refrain. Young deutet mit den Zeigefingern die Stierhörner an, wirft sich auf den Boden der Hebebühne, zappelt zum endlosen Solo.
Vergleichsweise simple Rhythmen, wenig intellektuelle Lyrics, immer Lautstärke – die maximale, versteht sich. Bei „Hells Bells“ fährt eine gigantische Glocke aus der Bühnenüberdachung herab. Jeder weiß eigentlich, was kommt. Und dennoch sorgen Band und Fans für einen Anblick, der sich auf ewig einbrennt, der niemals langweilt. Hölle und Hörner unter freiem Himmel, da schießt einem der Titel eines John-Irving-Romans in den Kopf: „Gottes Werk und Teufels Beitrag“. Gott erschuf vielleicht die Welt, aber Angus Young gründete AC/DC. Die Menge positioniert sich lauthals: „In Rock We Trust“.
Es ist das „Wir haben Angus – was habt ihr?“-Gefühl, das die 100 000 Besucher dieser Rock’n’Roll-Messe eint. Es differenziert sie von stumpfen Ecstasykörpern und tumben Bässen in dubiosen Clubs, und es bewahrt sie vor niveaulos-vulgärem Sprechgesangsgesabber postpubertärer Sexisten und vor weich gespülten Schlagern leicht zu vermarktender Blondinen, die aus Autoradiolautsprechern fiepen.
Bei aller Routine, die AC/DC mittlerweile an den Tag legen, kommen hier auf einzigartige Weise nach wie vor geniale Riffs wie bei „Thunderstruck“, feurige Showelemente wie beim Rausschmeißer „For Those About to Rock“ und Massenanimationssongs wie „High Voltage“ zusammen.
Ihrem Alter und Schicksal zum Trotz hat die Truppe auch bei ihrem Konzert am Hockenheimring einmal mehr bewiesen: Ihre energetischen Darbietungen, voller Elektrizität und Pyropower, Schweiß und Bier, zählen unbedingt mit zum Irrsten, was der Rock’n’Roll, was die Musikgeschichte zu bieten hat.