Glitzerndes Finale: Die Kompanie tanzt „One“ aus dem Musical „A Chorus Line“ Foto: Stuttgarter Ballett

Draußen: Kein Wölkchen trübte am Sonntag den Himmel über „Ballett im Park“. Drinnen: makellose Tanzkunst auf der Bühne im Opernhaus und ein Ensemble in bester Feierlaune. Zum Abschluss der Festwoche für Reid Anderson passte einfach alles zusammen.

Stuttgart - Schöner kann keine Ballettgala beginnen: Lächeln strahlt dem Publikum aus 28 Kindergesichtern entgegen, als sich der Vorhang im Opernhaus hebt. Fröhlich winken die Jüngsten aus der Cranko-Schule mit den Füßen, bevor sie sich zu „Etüden“ erheben, die mit dem Alter ihrer Interpreten an Schwierigkeit und Dynamik zunehmen - bis die ganze Schule auf den Beinen ist.

Ein Versprechen an die Zukunft ist der ganze Tanzmarathon, mit dem sich das Stuttgarter Ballett in den nächsten viereinhalb Stunden vor Reid Anderson verbeugen wird – gerahmt von zwei Défilés, einem klassischen in strammer Kompanie-Hierarchie und einem glitzernden Musical-Finale. Dazwischen präsentieren sich die Stuttgarter an der Seite von internationalen Stars auf hohem technischem Niveau und in stimmigen Neukreationen, dass sich der Abend zur Werbeveranstaltung rundet: für die nächste Saison sowieso, aber auch für die Tanzkunst und für ein freundschaftliches Miteinander, schließlich agieren hier zwei Dutzend Nationalitäten in schöner Harmonie.

Dass am Ende zwei Deutsche mehr das Opernhaus verlassen werden, hat mit einem Überraschungscoup des Stuttgarter Oberbürgermeisters zu tun: Fritz Kuhn hatte außer lobenden Worten zum Dienstjubiläum Reid Andersons zwei Urkunden im Gepäck. Die deutsche Staatsbürgerschaft, die der Intendant und sein Nachfolger Tamas Detrich beantragt hatten, überreichte er vor Publikum und laufender Kamera. Was der Datenschutz dazu meint, war da egal – die beiden Neubürger jedenfalls lagen sich freudig-verblüfft in den Armen.

Alicia Amatriain träumt von der Liebe

Nichts sollte diesen makellosen Abend trüben, auch keine Altlasten. „Dafür kann ich nur Abbitte tun“, entschuldigte sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei Reid Anderson dafür, dass die Sache mit dem Neubau der Cranko-Schule so lange gedauert hat und ihn letztendlich vor allem das „Insistieren“ des Intendanten ermöglichte. Was eine tolle Schule wiederum der Kompanie ermöglicht, durfte er kurz darauf mit eigenen Augen sehen: Alicia Amatriain, in dieser Saison mit vielen Preisen gekürte Ehemalige, wurde in den Armen von Jason Reilly durch Crankos „Hommage à Bolschoi“ regelrecht zur Galionsfigur der Kompanie erhoben. Im Dialog mit dem Pariser Publikumsliebling Mathieu Ganio träumte sie als „Kameliendame“ von einer Liebe, die reiner nicht sein konnte.

Friedemann Vogel, ein echtes Stuttgarter Gewächs, zeigte in „Kazimir’s Colours“ mit geschmeidigen Bewegungen an der Seite der Russin Diana Vishneva, warum er begehrter Partner internationaler Startänzerinnen ist. Als Trumpf-Ass kam er am Ende mit Elisa Badenes ins Spiel: Beide zelebrierten Balanchines „Tschaikowsky Pas de deux“ so souverän und mitreißend virtuos, dass jeder sehen konnte, dass die Millionen für die Schule gut angelegt sind. Constantine Allen kommt ebenfalls aus der Talentschmiede und machte drei Tage nach seinem Petrucchio-Debüt auch das im schwarzen „Schwanensee“-Pas-de-deux zur Sternstunde. Und Elisa Badenes wirbelte sich mit lange nicht gesehener Entschiedenheit durch Fouettés, dass jeder Lust auf mehr bekam.

Familiengeist in der Kompanie

Mehr gab es an diesem Gala-Abend von allem. So reich war das Programm, dass mit James Tuggle und Wolfgang Heinz gleich zwei Dirigenten gefordert waren. Schön war da, dass die Grußworte der lokalen Politiker knapp und doch treffend ausfielen, die Lobrede von Bundestagspräsident Norbert Lammert launig und unterhaltsam war. Nur die Angewohnheit der Politiker, sich ausführlichst gegenseitig zu begrüßen, „sehr geehrte Frau Ministerin Bauer“, irritierte in der Stuttgarter Konstellation. Ballettfans hätten es anders gemacht: Verehrte Kammertänzerin Birgit Keil, werter Sir Peter Wright, lieber Egon Madsen, Robert Tewsley, Mark McClain... um nur einige der Angereisten zu nennen.

„Stuttgart ist anders“, beschreibt Lammert den Familiengeist, der in der Kompanie herrscht. Seit fast 50 Jahren schätzt und schützt ihn auch Anderson, erst als Tänzer, dann als Chef. Ein Publikum, das den Intendanten in seiner kreativen Neugierde stärke und für Auslastungszahlen sorge, von denen, so Lammert, selbst Bundesliga-Kicker träumen könnten, eine lange Balletttradition und ein Wunder, das Stuttgart zum „Wallfahrtsort des Balletts“ gemacht habe: das alles stärke den Tanz, während er anderswo „beliebtes Sparschwein“ sei. „Was in Stuttgart passiert ist, wird sich nur an wenigen Plätzen der Welt wiederfinden“, vermutet Lammert.

Lob vom Landesvater und vier Uraufführungen

Einmal Stuttgarter, immer Stuttgarter? „So leicht wird man das nicht wieder los“, hatte OB Kuhn seine neuen Bürger gewarnt. Ehemalige Tänzer jedenfalls kommen gern zurück. Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin vom Berliner Staatsballett zum Beispiel, die Nacho Duatos „Formen der Stille und Leere“ sowie eine Cello-Suite von Bach mithaben und den Körper als Instrument des Tänzers feiern. Auch John Neumeier, trotz erschwerter Anreise beim Schlussapplaus auf der Bühne, bleibt Stuttgarter und schickte aus Hamburg seine Stars Hélène Bouchet und Carsten Jung mit einer starken Szene aus „Liliom“.

Zwanzig Jahre beim selben Arbeitgeber? Im Schwabenland ist das Dienstjubiläum, das Reid Anderson feiert, keine besondere Leistung. Im Bereich der Bühnenkunst schon, denn oft stehen hier die Zeichen auf radikalem Neuanfang. Keiner weiß das besser an diesem Abend als Kevin O’Day, scheidender Ballettdirektor des Mannheimer Nationaltheaters. „Ouverture to a Prelude“ heißt seine Verbeugung vor Anderson, der ihm 1997 die Tür nach Europa öffnete: Myriam Simon und Ami Morita tanzen traumverloren in langen Kleidern, David Moore und Roman Novitzky kämpfen sich unermüdlich an der Schwerkraft ab.

Winfried Kretschmann lobt Andersons siebten Sinn

Den Hut vor Reid Andersons Leistung zogen bei dieser Gala alle. „Neues wuchs organisch aus der Substanz“, lobte Winfried Kretschmann den siebten Sinn Andersons. Und auch OB Kuhn zeigte sich „im Namen der ganzen Bürgerschaft“ dankbar für den Spagat, mit dem es Anderson gelingt „Tradition zu bewahren und Avantgarde zu ermöglichen und befördern“.

Vier Uraufführungen unterstrichen diesen Anspruch. Douglas Lee ist einer der Choreografen, für die das Stuttgarter Ballett zum Sprungbrett wurde. Nun bedankt sich der inzwischen in Berlin lebende Brite mit „Arcadia“, einem Duett für Alicia Amatriain und Constantine Allen, das mit kunstvollen verwundenen Körperskulpturen zeigt, warum Lee der Manierist unter den Stuttgarter Entdeckungen ist. Edward Clug dagegen ist ein Meister der Tempi. In „Daydreamers“ lässt er Hyo-Jung Kang und Pablo von Sternenfels Bewegungen mit automatenhaftem Wippen verlangsamen, um das Paar dann wieder in ein schnell fließendes Wunderwerk der Präzision zu verwandeln. „In Short“ nennt Itzik Galili seine virtuose Begegnung von Anna Osadcenko und Jason Reilly, die schon wie „Mono Lisa“ aus einer vertrauensvollen Partnerschaft tänzerische Höchstleistung gebiert.

Marco Goecke, den Anderson in kluger Weitsicht als Hauschoreografen ans Stuttgarter Ballett binden konnte, lässt Thomas Lempertz in seinem Solo aus der Theaterhaus-Produktion „Greyhounds“ mit schneidenden Gesten einen Tänzer sich selbst befragen. „Er hat die große Gabe, junge Talente aufzuspüren und zu fördern“, sagte Winfried Kretschmann über Reid Anderson. Neben den vielen Choreografen, denen er rund hundert Uraufführungen während seiner Intendanz anvertraute, gilt das auch für tänzerisches Talent, das in Stuttgart nie lange brach liegt. Wie jenes von Anna Osadcenko, die nun mit Semyon Chudin vom Bolschoi-Ballett vorführte, wie mühelos leicht ein schwerer Klassiker vom Kaliber eines „Dornröschen“ aussehen kann.

Applaus hätte das Publikum allen gerne mehr gegönnt, auch Julien Favreau und Kathleen Rae Thielhelm vom Béjart Ballet Lausanne, die mit Gil Romans „Couleur Blues“ ausdrucksstarke Akzente setzten. Doch das dichtgepackte Programm erforderte eine rigide Vorhangregie. Dahinter und draußen im Park, moderiert von Sonia Santiago, durfte das Fest ein wenig länger dauern. Schließlich gilt das Wort des Ministerpräsidenten. „Ihre zwanzig Jahre Herr Anderson“, so Kretschmann, „sind für viele außergewöhnlich.“