Wo Mythen geboren werden: Erinnerungen an wilde Tage im Café Weiß, an das Leben von Schwulen in toleranzarmer Zeit. Wirt Ranko feierte nun nach 40 Jahren Abschied mit Freigetränken. Foto: www.7aktuell.de | Oskar Eyb

Wo Mythen geboren werden: Erinnerungen an wilde Tage im Café Weiß, an das Leben von Schwulen in toleranzarmer Zeit. Wirt Ranko feierte nun nach 40 Jahren Abschied mit Freigetränken.

Stuttgart -  Wo Mythen geboren werden: Unsere Geschichte über das Café Weiß hat für viele Reaktionen gesorgt. Noch mehr Erinnerungen an wilde Tage, an das Leben von Schwulen in toleranzarmer Zeit. Wirt Ranko feierte nun nach 40 Jahren Abschied mit Freigetränken.

Nur wenige Schritte vom Kaufhaus Breuninger entfernt tat sich für Evelyn S. in den 1960ern eine neue Welt auf. In der mittlerweile vom Schwabenzentrum überbauten Nesenbachstraße befand sich das alte Café Weiß – in jenem Bretterbudenreich, das mit Rotstich und Rock’n’Roll eine Szene anzog, die man heute Subkultur nennen würde. „Im Café Weiß ging’s nobel und ein bisschen verrückt zu“, berichtet die frühere Bankangestellte am 333-Telefon, „aber das war es gerade, was mir so gut gefallen hat.“

Hier lernte sie John Cranko kennen, etliche Tänzer des Stuttgarter Balletts, die schon damals zu ihren Beziehungen mit Männern stehen konnten. „Die meisten mussten es geheim halten“, sagt Evelyn S., „darunter waren Führungskräfte und Ärzte, die ihren Job verloren hätten, wäre es herausgekommen.“ Manchmal sprang sie für einen schwulen Weiß-Gast als weibliche Begleitung bei auswärtigen Einladungen ein. „Es war eine andere Zeit“, sagt die StN-Leserin, „wie gut, dass heute alles freier ist, aber es war eine schöne Zeit.“ Die Freundschaften wird sie nicht vergessen – ebenso wenig die Damen des Gewerbes, „die hatten noch Niveau“.

Am Montagabend feierte Wirt Ranko im Café Weiß, das Stadtgeschichte geschrieben hat, seinen Abschied mit Freigetränken und etwa 100 Gästen. Gegen 18 Uhr ließ er schon keinen mehr rein. Entertainer Michael Gaedt und Travestiekünstlerin Coco traten auf, reichlich floss der Frei-Wodka. Am 8. Mai will Inhaber Bernhard Weiß das Lokal nach der Sanierung im „Sinne von Opa und Vater“ mit neuen Pächtern öffnen. Vor einer Woche haben wir auf dieser Seite darüber berichtet und seitdem viele Mails und Anrufe bekommen. Wie war das nun früher?

„Man nannte das Café Weiß einst Café Hemdhoch“, berichtet ein weiterer Anrufer. Das Lokal galt als Nest von Prostituierten und Schwulen. Sepp Kögel, der frühere Leiter der Stuttgarter Mordkommission, arbeitete als junger Polizist von 1956 bis 1961 im Revier Schmale Straße und versichert: „Eine Verfolgung homosexueller Besucher habe ich nicht erlebt. Allenfalls wegen zahlungsunwilliger Gäste kamen wir in das Lokal.“ Ein Problem sei gewesen, dass viele Schwule ihre sexuelle Ausrichtung geheim halten mussten, um nicht bei der Arbeit benachteiligt zu werden. Deshalb sei es schwierig gewesen, an ihre Personalien zu kommen.

„Idealisierend“ findet man beim schwul-lesbischen Zentrum Weissenburg die Behauptung, in den 1950ern habe die Polizei Schwule in Ruhe gelassen. Im Sittendezernat habe es in dieser Zeit zwei junge Beamte gegeben, die zum „Schrecken der Homosexuellen Stuttgarts“ geworden seien. Wie das neu erschienene Buch „Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern“ nachweise, sei Baden-Württemberg nach 1945 mit V-Männern, einer Spezialkartei und einer Lichtbildersammlung härter als andere Bundesländer gegen Schwule vorgegangen. Allein 1955 habe es in Stuttgart 236 Anzeigen wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 175 gegeben.

Das Café Weiß bot Schwulen, die nicht offen leben konnten, eine Heimat. Etliche unserer Leser erinnern an „Herrn Willi“, der mit Schneidermeister Alois Weiß das Lokal führte. „Herr Willi war Kaufmann, Erfinder und Hobbykünstler und hatte die Fäden in der Hand“, berichtet ein Zeitzeuge. An diesem frühen Ort der Toleranz soll es bald weitergehen. Der Geist von Alois und Heinz Weiß, von „Herrn Willi“ und vielen anderen hat der Stadt gutgetan. „Früher“, sagt eine Anruferin, „war Stuttgart gar nicht so verschlafen, wie es heute immer heißt.“ Wir werden die Rebellen der Nacht ehren und demnächst im Weiß auf ihre Lebensfreude anstoßen.