So viel Inklusion wie möglich zu leben – das ist und war das Ziel des scheidenden Karlshöhendirektors Frieder Grau. Foto: factum/Granville

14 Jahre lang war der Theologe Frieder Grau (65) Chef der Karlshöhe. In seine Amtszeit fiel die Aufarbeitung der Heimkinderziehung in den 50er und 60er Jahren. Jetzt geht er in den Ruhestand und zieht Bilanz.

Ludwigsburg – - Für manche ist der Karlshöhen-Chef Frieder Grau (65) ein Nestbeschmutzer. In die Amtszeit des Theologen fiel die Aufklärung der Übergriffe in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Grau hat immer auf Offenheit gesetzt. Das hat nicht allen gefallen.
Herr Grau, wie weit sind wir als Gesellschaft mit dem Thema Inklusion? Glauben Sie, dass Einrichtungen wie die Karlshöhe irgendwann einmal überflüssig werden?
In meiner Predigt habe ich gesagt, dass wir keine Karlshöhe mehr brauchen, wenn einmal das Reich Gottes kommt.
Aber es gibt eine Zeit davor.
Genau. Da vermute ich, dass wir sie weiterhin brauchen werden. Auch wenn wir sehr unterstützen, dass unsere Bewohner in Außenwohngruppen wohnen, sich mit dem Bus fortbewegen und ein möglich selbstbestimmtes Leben führen. Aber es gibt auch Menschen, die mit so großen Einschränkungen leben, dass ein Leben draußen hinderlich für sie wäre. Es gibt zudem Jugendliche, die nirgends zurechtkommen und die einfach für eine gewisse Zeit auf der Karlshöhe – nicht inklusiv – sondern exklusiv betreut werden, damit sie sich dann wieder in den normalen Schulbetrieb einfinden können. Bei allem Bemühen der Gesellschaft wird es immer solche Schutzräume geben. Aber es gilt: so viel Inklusion wie möglich.
Sie haben mit den minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen eine neue Klientel bekommen. Passt das?
Das funktioniert erstaunlich gut. Auch deshalb, weil wir engagierte Mitarbeiter haben, die diese Jugendlichen intensiv betreuen. Besondere Hochachtung habe ich vor unseren jungen weiblichen Mitarbeiterinnen, die ja oft bei pubertierenden männlichen Jugendlichen mit einem ganz besonderen Frauenbild konfrontiert sind. Da hilft es nicht, mit falscher Toleranz oder defensiv zu agieren. Inzwischen haben wir drei Gruppen. Gut und sinnvoll ist auch der Sport, weil es dort keine Sprachbarrieren gibt und die Jugendlichen Aggressionen ablassen können.
Eine der größten Aufgaben in Ihrer Amtszeit war wohl die Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren.
Das war eine große Herausforderung. Wir hatten keine Erfahrung und haben einfach begonnen, gemeinsam mit ehemaligen Heimkindern und ehemaligen Erziehern und Erzieherinnen diese Zeit aufzuarbeiten. Dass es so gut gelungen ist, lag an der Kooperationsbereitschaft der ehemaligen Heimkinder.
War Ihnen sofort klar, dass es nur den Weg an die Öffentlichkeit gibt?
Mir war gleich klar, dass wir offensiv und konstruktiv mit den Vorwürfen umgehen sollten. Und das hat sich auch bewährt, obwohl es nicht immer ein leichter Prozess war. Es hat sich bewährt, dass wir die Anliegen der ehemaligen Heimkinder sehr ernst genommen haben. Es ging darum, die Erfahrungen der Erniedrigung anzuerkennen und nicht zu beschönigen.