In seinem Element: Dietrich Vonhoff in der Werkstatt Foto: factum/Granville

Als Dietrich Vonhoff in sein Berufsleben startete, kam niemandem in den Sinn, dass auch schwerst pflegebedürftige Menschen etwas leisten können. Dass sich dieses Bild komplett gewandelt hat, ist auch Dietrich Vonhoff zu verdanken, dessen Berufsleben nun endet.

Ludwigsburg - Wenn Dietrich Vonhoff von seiner Arbeit als Leiter der Theo-Lorch-Werkstätten spricht, spürt man sofort, dass da einer nicht nur seinen Job gemacht hat, sondern – so abgedroschen es klingen mag – seine Berufung gelebt hat. Dass er diese Arbeit machen durfte, betrachtet der Ingenieur als „großes Geschenk“. Ein Gespräch zum Abschied über falsche Scham, überkommende Klischees und vollkommene Inklusion.
Herr Vonhoff, Sie haben mehr als 40 Jahre mit Menschen mit Behinderung gearbeitet. Was war Ihr eindrücklichstes Erlebnis?
Als ich 22 Jahre war, habe ich ein soziales Jahr in Bethel gemacht und dort mit epileptisch kranken Männern gearbeitet. Damals war noch nicht klar, dass auch schwerst pflegebedürftige Menschen an Arbeit teilhaben können, dass auch sie etwas leisten können. Bei mir entstand damals der Impuls, genau das zu machen.
Sie haben Feinwerktechnik studiert, sind Diplom-Ingenieur. Wie hat Ihre Familie reagiert, als Sie sagten: Ich gehe in die Behinderten-Werkstatt?
Viele konnten sich das damals nicht vorstellen, dass ein Ingenieur mit Behinderten arbeitet. Meine Familie hatte allerdings kein Problem damit. Mein Vater war ehrenamtlicher Vorstand der Lebenshilfe in Heidenheim, wo damals die ersten Werkstätten gegründet wurden. Meine Arbeit war meiner Familie also ansatzweise vertraut.
In den 70er-Jahren hat man sich für ein behindertes Kind noch schämen, müssen. Wie haben Sie das damals erlebt?
Ich bin oft zu Familien gekommen, die auch tagsüber die Klappläden an den Fenstern verschlossen hielten – so sehr waren sie darauf bedacht, dass ihr behinderter Angehöriger nicht gesehen wird. Sie wurden teilweise richtig versteckt. Da haben wir viel Aufklärungsarbeit leisten müssen.
Wie sah die Arbeit in den Werkstätten aus?
Bevor es die Werkstätten gab, sind Menschen mit Behinderung oft in den, wie man damals noch sagte, Anstalten beschäftigt worden. In der Landwirtschaft, der Schuhmacherei, der Wäscherei. Als die ersten Werkstätten gegründet wurden, gab es dann auch einfache Montage- oder Verpackungsarbeiten. Und die Lohnarbeiten sind in den Folgejahren ja immer mehr geworden. Trotzdem herrscht bei vielen Leuten noch das Bild vom Körbe flechten oder Teppiche knüpfen vor. Die große Schwierigkeit war immer, das, was wir in den Werkstätten machen, nach außen zu transportieren. Das hat mich viel Kraft gekostet.
Bei den Theo-Lorch-Werkstätten gibt es inzwischen Arbeitsplätze für Maler, für Gärtner, außerdem Angebote für Bürodienstleistungen und Hauswirtschaftstätigkeiten. Ist da ein paralleler Arbeitsmarkt entstanden?
Nein! Diese neuen Arbeitsgebiete waren ein klarer Auftrag unseres Gesellschafters. Er möchte, dass wir ein breites Arbeitsangebot bieten. Denn darum geht es ja: Dass wir die Wünsche und Vorlieben der Menschen mit Behinderung umsetzen, damit sie teilhaben können. Nicht jeder arbeitet gern an einer Maschine. Der Blickwinkel hat sich stark verändert, zum Glück.
Aber werden Werkstätten für Menschen mit Behinderung nicht auch dafür kritisiert, weil sie eine Sonderstruktur festigen würden?
Der Leistungsgrad der Menschen mit Behinderung, die bei uns beschäftigt sind, liegt bei zehn oder 20 Prozent einer Normalleistung. Die Leute werden uns zugewiesen, weil sie aufgrund ihrer Behinderung am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht teilhaben können. Ich gebe jedem recht, der sagt, es könnten mehr unserer Beschäftigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Dafür braucht es aber auch Firmen, die sich darauf einlassen. Die Theo-Lorch-Werkstätten haben in diesem Bereich übrigens schon viel geleistet. Inzwischen sind an die 130 Arbeitsplätze direkt bei den Betrieben eingerichtet, mit denen wir zusammenarbeiten.
Die Vereinten Nationen haben 2015 die schrittweise Abschaffung der Werkstätten empfohlen. Hat Sie das getroffen?
Überhaupt nicht! Im Gegenteil. Wenn wir die Inklusion zu Ende denken, ist das genau der Zustand, den wir erreichen müssen. Es wäre toll, wenn uns das gelänge. Wobei natürlich sichergestellt sein muss, dass jeder Einzelne entsprechend seiner Möglichkeiten arbeiten kann und den Hilfebedarf hat, den er braucht. Wenn Menschen mit Behinderung letztlich keinen Arbeitsplatz haben und einfach nur zuhause sitzen, dann frage ich mich, was ist ihnen geholfen?
Ein Arbeiter in einer Behindertenwerkstatt verdient im Schnitt knapp 200 Euro pro Monat. Ist das gerecht?
Arbeitsrechtlich handelt es sich zwischen den Werkstätten und den Arbeitern nicht um ein normales Arbeitsverhältnis. Wir sind also nicht frei, Tariflöhne zu bezahlen oder einen Mindestlohn. Die Bezahlung ist bundesweit in der Werkstättenverordnung geregelt. Sie schreibt vor, dass die Mittel, die wir mit unserer Produktion erwirtschaften, als so genannte Arbeitsprämie ausbezahlt werden. Das sind dann die durchschnittlich knapp 200 Euro. Aber vergessen Sie nicht: Der Leistungsgrad der Menschen, die in den Werkstätten arbeiten, ist ein anderer.
Seit dem vergangenen Jahr gibt es ein neues Teilhabegesetz des Bundes. Was bedeutet das für Ihr Haus?
Für uns ist besonders relevant, dass es für Betroffene ein niederschwelliges Beratungsangebot geben muss, zum Beispiel, indem Betroffene Betroffene beraten. Das ermächtigt Menschen mit Behinderung dazu, ihr Leben mehr zu gestalten. Mit mehr Unterstützung kann jeder für sich selber entscheiden, in welche Richtung er gehen möchte. Und das wollen wir ja!
Die vollendete Inklusion ist keine Illusion?
Sie ist ein Fixstern. Einen Traum muss man immer haben. Als ich damals in Bethel war, sind wir mit unseren Behinderten – so hat man damals noch gesagt – auch ins Café und ins Freibad. Das war revolutionär. Heute ist das selbstverständlich. Und so wird der Prozess weiter gehen.

Der Chef und die Einrichtung

Persönlich
Dietrich Vonhoff ist vor 65 Jahren in Heidenheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Studium der Feinmechanik arbeitete er von 1976 bis 2005 bei den Backnanger Werkstätten der Paulinenpflege Winnenden. 2006 kam er nach Ludwigsburg. Vonhoff ist verheiratet, hat drei Kinder und ist „glücklicher Opa“ von sechs Enkeln.

Dienstlich
Die Theo-Lorch-Werkstätten sind eine gemeinnützige GmbH. In fünf Häusern in Ludwigsburg, Bietigheim und Großbottwar bieten sie mehr als 800 Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung Arbeit. Gesellschafter ist der Verein Arbeit und berufliche Bildung für benachteiligte Menschen Ludwigsburg (ABL).

Künftig
Zum Nachfolger von Dietrich Vonhoff, der an diesem Donnerstag feierlich verabschiedet wird, hat der ABL Stefan Wegner bestimmt. Mitglieder der ABL sind unter anderem die Karlshöhe, der Landkreis und das Rote Kreuz Wegner arbeitete zuvor beim bhz Stuttgart. Der 49-Jährige empfindet seine Ernennung als „große Ehre“.