Zwiegespräch zwischen Tradition und Moderne: Christa Linsenmaier-Wolf im Stadtmuseum Foto: Gottfried Stoppel

Das Fellbacher Kulturleben hat vieles zu bieten. Wie es dazu kam, und warum ungarische Autoren Blitzbutterkuchen lieben, lehrt ein Besuch bei der scheidenden Leiterin des städtischen Kulturamts, Christa Linsenmaier-Wolf.

Stuttgart - Wer mit Christa Linsenmaier-Wolf durch Fellbach spaziert, erlebt, was man eigentlich nur aus arrangierten Werbeclips kennt: dass links und rechts die Leute beflissen grüßen, ihr ein paar freundliche Worte zuwerfen oder gar auf ein Schwätzchen stehen bleiben. Was sich so unwillkürlich der Dramaturgie eines Imagefilmes zu fügen scheint, ist die ungezwungene Realität eines Wirkens, das sein Ziel erreicht hat. Denn was könnte das Ziel einer Kulturvermittlerin sein, als bei den Leuten auf der Straße anzukommen?

Das Rathaus des Schweizer Architekten Ernst Gisel dominiert das Fellbacher Zentrum mit der trutzigen Eleganz einer italienischen Stadtburg. Mehr als drei Jahrzehnte hat Christa Linsenmaier-Wolf von hier aus dazu beigetragen, die von dem Bau geweckten Erwartungen an ein quirliges Kulturleben einzulösen. Am 28. Juni verabschiedet sie sich aus einem Amt, das von wechselseitiger Erfüllung lebte. Das macht ihr sichtlich zu schaffen und raubt ihr nachts den Schlaf.

„Ich tue mich schwer mit Schwellen“, sagt sie etwas ratlos lächelnd. „Der Großteil meines Lebens bestand bisher aus meiner Arbeit, einem Traum-, aber auch einem Knochenjob. Da kann man nicht einfach den Schalter umlegen.“ Der jugendliche Elan, mit dem sie von ihren Unternehmungen in der Stadt berichtet, klingt nicht unbedingt nach Ruhestand. Wo Profession und Passion Hand in Hand in Hand gehen, tickt die Uhr anders. „Ich habe eigentlich immer Konzepte entwickelt, nicht nur im Büro, auch nachts im Bett, und die besten Ideen kommen mir beim Schwimmen, zehn mal hundert Meter.“ Im September übernimmt die in Ludwigsburg lehrende Kulturmanagerin Maja Heidenreich.

Griff nach den Sternen mit Bodenhaftung

Ob sie mal reinschnuppern wolle, hatte der frühere Fellbacher OB Friedrich-Wilhelm Kiel sie 1983 gefragt. Da hatte sie gerade in Stuttgart ihr Studium der Germanistik und Geschichte abgeschlossen. Und vermutlich war auch dies eine von widerstreitenden Gefühlen begleitete Schwellenerfahrung. Aus dem Schnuppern wurde mehr. Als freie Mitarbeiterin organisierte sie die zweite Ausgabe der Triennale, jene der Kleinplastik gewidmete Kunstschau von inzwischen internationalem Rang. Sie verfasste Programmhefte für Theateraufführungen, die häufig besser waren als die Gastspiele, denen sie galten. Und warum sollten eigentlich die großen Autoren und Autorinnen unserer Tage an Fellbach vorbeifahren? Mutig schrieb sie Briefe. Und siehe, sie kamen: Bald saßen Stefan Heym, Pavel Kohout, Hermann Lenz oder Peter Nadas im elterlichen Wohnzimmer im Sessel, wo sie nach ihren Lesungen mangels eines eigenen Budgets mit Selbstgebackenem versorgt wurden. Seitdem verbindet man in osteuropäischen Literatenkreisen mit Deutschland nicht mehr nur Blitzkrieg, sondern auch Blitzbutterkuchen, wie die Fellbacher umgekehrt zu Kennern der ungarischen Literatur geworden sind.

Anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung verzahnte die kurz zuvor zur Leiterin des Kulturamts Bestellte unter dem Titel „Als der Krieg zu Ende war“ Lesungen, Vorträge und Kunstausstellungen mit einer Aufführung von Brittens „War-Requiem“. „Die ganze Stadt wurde zur Bühne für ein Thema.“ Die in Stuttgart geborene, in Fellbach aufgewachsene Christa Linsenmaier-Wolf erzählt davon in der wohl schönsten Färbung, die das heimische Idiom annehmen kann. Wie das Geheimnis ihrer Vermittlungskunst überhaupt darin zu liegen scheint, das Überregionale lokal zu verankern – oder, etwas pathetischer: Bodenhaftung mit dem Griff nach den Sternen zu verbinden. Aus einem Europafestival der Regionen entwickelte sich die Idee, den europäischen Gedanken auf dem Weg sinnlicher Erlebnisse gegen die oft beklagte Bürgerferne zu verteidigen. Der Europäische Kultursommer war geboren, der alle drei Jahre zu Entdeckungsreisen zwischen Politik, Gesellschaft und Kultur einlädt. Man mag sich nicht vorstellen, wie viele Bahnen die Kuratorin solcher ambitionierter Programme geschwommen sein mag.

Knotenpunkt der Mörike-Gedächtnislandschaft

Gerade einmal drei nicht sonderlich fruchtbare Monate hat der Dichter Eduard Mörike in Fellbach verbracht, das Haus, in dem er gelebt hat, existiert nicht mehr. Und doch ist der Ort mittlerweile ein lebendiger Knotenpunkt der Mörike-Gedächtnislandschaft, dank des alle drei Jahre in seinem Namen verliehenen Preises. Dass die Verbindung zu dem Dichter keine äußerliche ist, davon zeugen in Linsenmaier-Wolfs Büro die Gebrauchsspuren der zwanzigbändigen Historisch-kritischen Gesamtausgabe. „So eine schöne Einführung gibt es selten oder nie“, beschied ihr der Lyriker Jan Wagner, als er vor drei Jahren den Preis entgegennahm.

Von dem wachen hermeneutischen Sinn, der die von ihr kuratierten Festivals so beziehungsreich macht, ist auch die kleine Mörike-Ausstellung im nahen Stadtmuseum geprägt. Der beschauliche Fachwerkbau birgt zudem einen neuen Typus des Heimatmuseums. Hier wird nicht mehr chronologisch Stadtgeschichte abgespult, sondern in exemplarischen Fallgeschichten Tradition und Moderne einander gegenübergestellt. Die Form der Darbietung trug dem Haus eine Nominierung für den europäischen Museumspreis ein.

Man könnte nun so weitermachen, einen Markstein nach dem anderen abklappern, die Programme, mit denen sie erfolgreich Kinder aus bildungsferneren Schichten anspricht, das Verdienst, die schöne Alte Kelter aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt, und der Triennale damit einen wirkungsvollen Schauplatz eröffnet zu haben. Aber abgesehen davon, dass man damit immer unvollständig bliebe, versäumte trockenes Bilanzieren verdienstvoller Superlative genau den lebendigen Geist ihrer kulturellen Abenteuer.

Christa Linsenmaier-Wolf hat nicht alles neu erfunden, sondern ein von kulturaffinen Bürgermeistern, einem offenen Gemeinderat und einer interessierten Bürgerschaft bereitetes Gelände vorgefunden. Welche Stadt in dieser Größenordnung leistet sich schon ein eigenes Amt nur für Kultur? Aber sie hat dieses fruchtbare Terrain zum Blühen gebracht, so dass die kleine Stadt in Umkehrung der Kräfteverhältnisse manchen Stuttgarter nach Fellbach lockt, anstatt vor dem Angebot in der nahen Kapitale zu kapitulieren.

Deshalb zum Schluss das Ohr noch einmal an die Straße geheftet. „Sie haben uns alle geschult“, sagte ihr neulich eine Fellbacherin. Ein Satz, mit dem man sich getrost durch die ein oder andere schlaflose Nacht tragen lassen kann – über die Schwelle zu einem neuen Leben.