Er ist seit 1996 das Gesicht des Stadtarchivs – Ende September geht Roland Müller in den Ruhestand. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Roland Müller ist seit 1996 das Gesicht des Stuttgarter Stadtarchivs. Auf einer international besetzten Tagung über die visuelle Überlieferung der NS-Diktatur ist er gewürdigt worden. Müller geht Ende September in den Ruhestand.

Stuttgart - Ursprünglich hatten die Mitarbeiter des Stuttgarter Stadtarchivs die hochkarätig und international besetzte Tagung „Vernachlässigte Quellen? Die visuelle Überlieferung der NS-Diktatur in Archiven und ihre Erforschung“ als Ehrung und Geschenk zum 65. Geburtstag ihres Chefs, Archivleiter Roland Müller, am 6. Dezember 2020 vorbereitet. Das hat die Pandemie vereitelt. Nun fand die Tagung als internationales Zoom-Meeting statt und wurde gleichzeitig zur Ouvertüre für die Verabschiedung von Roland Müller in den Ruhestand.

„Sie haben eine Ära geprägt und das Stuttgarter Stadtarchiv zum Kompetenzzentrum für Stadtgeschichte gemacht“, würdigt Stuttgarts Erster Bürgermeister Fabian Mayer (CDU) den zum 30. September Ausscheidenden, der 1996 die Leitung des Stadtarchivs übernommen hatte. „Damals gab es nicht einen einzigen Computer“, nannte Mayer nur ein Symptom für die schwierigen Bedingungen. Die Wende brachte 2011 der Umzug in den Bellingweg, wo ein altes Lagerhaus in ein fachgerecht ausgestattetes Archiv umgebaut wurde: „Ein Meilenstein meiner Amtszeit“, sagt Müller, der sich gern einen „Lauttreter des Archivwesens“ nennen lässt. Weil er, so Mayer, stets versucht habe, die Öffentlichkeit für die Arbeit des Archivs zu interessieren und einzubinden. Belege dafür seien das digitale Stadtlexikon und das in der breiten Öffentlichkeit viel beachtete Projekt „Stuttgart 1942“ in Kooperation mit Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten.

Leser steuerten ihre eigenen Erinnerungen bei

Bilder sprechen: Das ist die Kernaussage in den Beiträgen der Tagung über die visuelle Überlieferung der NS-Diktatur und die Frage, wie sich das große Potenzial fotografischer und filmischer Quellen ausschöpfen lässt. Das gilt auch für das Projekt „Stuttgart 1942“, über das der zuständige Redakteur Jan Georg Plavec berichtete. 1942 hatte die Stuttgarter Stadtverwaltung systematisch die Straßen fotografieren lassen. 12 000 Bilder entstanden, die eine Stadt zeigen, die es heute nicht mehr gibt. Monate später brachten Bombenangriffe verheerende Zerstörungen. Es ist ein Schatz, der im Stadtarchiv schlummerte und von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten digital zugänglich gemacht und mit begleitenden Geschichten veröffentlicht wurde. „Ein Bestand, der bewegt“, so Plavec. Das Leserinteresse sei anhaltend hoch: „Wir hatten 1,3 Millionen Abrufe.“ Die Leser steuerten zudem eigene Erinnerungen und weitere Informationen bei. Plavec verschwieg auch nicht den „leisen Vorwurf“, die Fotos könnten als Propaganda missverstanden werden. „Das sensibilisiert: Wie gucke ich auf solche Fotos“, sagte er.

„Modernes und professionelles Gedächtnis der Stadtgesellschaft“

„Welche Fragen können Fotobestände und Filme aus der NS-Zeit beantworten, wie können wir ihre NS-konformen Perspektiven hinterfragen“, hatte Katharina Ernst in ihrer Begrüßung die Erwartung des Zoom-Meetings formuliert. Dafür konnte die stellvertretende Archivleiterin als Referenten auch Gerhard Paul aus Flensburg (Visual History und Drittes Reich), Norman Domeier von der Uni Stuttgart (Die Zusammenarbeit von AP und NS-Regime), Tobias Ebbrecht-Hartmann, Hebrew University of Jerusalem (Stuttgarter Kriegsfilmchronik), Maiken Umbach, University of Nottingham (Fotografie als politische Praxis), gewinnen. Sie habe, so Ernst, bewusst dieses Thema gewählt, weil es „Müllers Tätigkeit als Historiker und Archivar auf besondere Weise verknüpft“. Müller promovierte bei Eberhard Jäckel an der Universität Stuttgart über das Thema „Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus“, gehört der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg an und ist seit 1995 Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Stuttgart, die ihn 2017 zum Honorarprofessor berief. Er sei, so Müller, dankbar, „dass wir uns als modernes professionelles Gedächtnis der Stadtgesellschaft profilieren und breit vernetzen konnten“.