Manch einer nimmt über 20 Jahre hinweg süchtig machende Medikamente. Foto: Mauritius

In Deutschland sind 1,5 Millionen Menschen medikamentenabhängig. Die meisten von ihnen nehmen Schlaf- und Beruhigungsmittel, die ihnen Ärzte zum Teil über Jahre hinweg verschreiben.

Stuttgart - Renate war 44, als die Angst begann: Gerade war sie befördert worden – eine Herausforderung. „Eigentlich eine gute“, sagt die 65-Jährige heute. Trotzdem war sie unsicher, griff zu Beruhigungsmitteln. Renate will anonym bleiben, wenn sie erzählt, was die medikamentöse Behandlung bei ihr anrichtete: „20 Jahre Tablettensucht, ohne dass es irgendjemand bemerkt hätte“, sagt die Kölnerin. „Auch ich selbst war blind.“

Abends kreisten die Gedanken um die Arbeit, nachts war sie schlaflos, tagsüber panisch. Die 44-Jährige wollte aber funktionieren. Also ging sie zum Arzt. Dort bekam sie das Beruhigungsmittel Diazepam, ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine. Es wirkt angstlösend und schlafbringend. Benzodiazepine docken im Gehirn an die Rezeptoren an, die Erregungen regulieren, und dämpfen diese.

„Dadurch entsteht ein hohes Suchtpotenzial, der Körper gewöhnt sich schon nach wenigen Wochen an die Substanz“, sagt Christa Merfert-Diete von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Wer die Mittel nicht regelmäßig einnehme, leide unter Entzugserscheinungen, die sich etwa in Schlafstörungen äußern könnten. Dies wiederum werde von den Betroffenen als Teil der Krankheit gesehen, „man ist ja weiterhin schlafgestört“, sagt Merfert-Diete. Also gingen sie zwecks Abhilfe zum Arzt.

Rund 1,5 Millionen Deutsche sind von Benzodiazepinen abhängig, schreibt die DHS in ihrem neuen Jahrbuch Sucht. „Zwei Drittel davon sind ältere Frauen, und viele nehmen die Mittel jahrelang.“ An Sucht denkt dabei auch ihr Umfeld nicht: „Ich bin krank, und der Arzt verschreibt mir eben ein Medikament“, beschreibt Merfert-Diete die Einstellung.

So sah das auch Renate. Ihre Pille war erst „eine Erlösung: Ich kam zum ersten Mal seit Wochen zur Ruhe“. Dann kam aber die Angst zurück, „ohne die Pillen war sie unerträglich“. Ihr Hausarzt erneuerte also das Rezept. Er tat dies 20 Jahre lang.

Ein typischer Fall, sagt der Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske. Dabei seien Benzodiazepine „unverzichtbar für akute Krisen, aber nicht geeignet zur Langzeitanwendung“. Das sollte den Ärzten auch bekannt sein. Denn die Nebenwirkung „Abhängigkeit“ steht in der Packungsbeilage. Außerdem gibt es seit Jahren die Leitlinie für Ärzte, sie nur für wenige Wochen einzusetzen.

„Unsichtbare Süchtige“ nennt Rüdiger Holzbach die Medikamentenabhängigen. Holzbach hat in Ostwestfalen eine der wenigen Suchtkliniken mit speziellen Angeboten für diese Betroffenen aufgebaut. Seine Patienten verhalten sich im Alltag angepasst, viele von ihnen sind Senioren. Sind sie vergesslich oder tranig, schiebt das Umfeld es auf das Alter. Arbeiten sie noch, „lassen die Pillen sie durchaus funktionieren“.

Harmlos macht das die Pillen nicht, auch wenn die meisten ihre Dosis nicht erhöhen. „Die Ursachen der Schlafprobleme bleiben unbehandelt.“ Betroffene zögen sich zurück, lebten mit abgesenkten Gefühlen und höherer Unfallgefahr: „Ruhig, aber mit weniger Lebensqualität.“

Die meisten Abhängigen bekämen das Mittel vom Hausarzt, sagt der Psychiater. Das Bewusstsein sei zwar unter Ärzten gestiegen, „im Alltag ist es aber viel aufwendiger, die Ursachen eines Schlafproblems aufzuspüren, als ein Rezept zu verlängern“. Zumal die Patienten damit einigermaßen zufrieden seien „und selbst nicht an Sucht denken“, sagt Holzbach.

Hilfe suchten nur wenige: „Es ist die stillste aller Süchte, Beratung oder Therapie wird kaum nachgefragt.“ Etwa 80 Patienten entzieht Holzbach pro Jahr: Begleitet von Psychotherapie wird das Mittel langsam herunterdosiert, damit das an die Dämpfung gewöhnte Gehirn nicht überreagiert. Die meisten überwinden die Sucht, sagt Holzbach, „und leben ein erfüllteres Leben“.