Deutschland ist ein Land der Stammtische. In Freiburg trifft sich Torten-Thomas regelmäßig mit süßen Gleichgesinnten.
Torten-Thomas isst gerne Kuchen und Torten, am liebsten Sahnetorten. Aber, und das ist wichtig, er backt nicht selber und liefert auch keine Torten aus. Auch keine Törtchen, schon gar nicht vegane. Die fragte neulich jemand bei ihm an. Auch einer Mutter konnte er nicht weiterhelfen, sie wollte den sechsten Geburtstag ihres Sohnes feiern und schrieb: „Wir dachten an Kaffee und Kuchen für alle und Sekt auf Wunsch.“ Torten-Thomas schreibt dann immer zurück, man sei „nur eine Hobbygruppe von Kuchen- und Tortenbegeisterten“.
Vor einem Jahr hat Thomas Seiffert, 65, den Freiburger Torten-Stammtisch ins Leben gerufen. Die muntere Torten-Runde, das sind etwa 20 Frauen und Männer, die meisten zwischen 60 und 70 Jahren, deutlich mehr Frauen als Männer. Rentner, Köche, Grafikdesigner, Physiotherapeuten. Eine lose Gruppe mit hartem Kern. Jeder bringt mal jemanden mit, anmelden muss man sich nicht. Die „Tortenfreunde“, so nennen sie sich, sind über eine Whatsapp-Gruppe verbunden. Auch für den Fall, dass mal jemand Unterstützung im Garten oder anderweitige Hilfe braucht.
Der Stammtisch kämpft mit einem schlechten Image
Deutschland ist ein Land der Stammtische: Es gibt den Excel-Stammtisch, bei dem über Tabellen geredet wird. Den Stammtisch der Zwillingseltern, online wie offline. Den Latein-Stammtisch „Circulus Latinus Monacensis“, bei dem sogar Lateinisch geredet wird. Es gibt die Motorrad-Freunde oder den Ruhrpott-Stammtisch, wo man von den Nacht erhellenden Funken der Hochöfen schwärmt. In Niederbayern rief jüngst ein Mann die Polizei an, weil er eine Einschätzung zu einem Thema brauchte, das man gerade am Stammtisch besprach. Er erhielt eine Anzeige wegen Notruf-Missbrauchs.
Schon Wilhelm Busch dichtete: „Da sitzen, eng vereint und bieder / Auch diesen Sonntagabend wieder / Nach altem Brauch im Freundschaftskreise / Die Männer und die Mümmelgreise.“ Doch der Stammtisch kämpft mit einem schlechten Image. Will man politische Gegner diskreditieren, wirft man ihnen „Stammtischparolen“ vor. Beim Urtyp des Stammtisches denkt man an alte Männer, die in einer verrauchten Dorf-Wirtschaft Halbe trinken, dabei über Chefs, Nachbarn, Frauen herziehen.
Die Freiburger Tortenfreunde treffen sich jeden ersten Samstag im Monat für zwei Stunden, reden über das richtige Backen von Brötchen, wie man eine Erdbeer-Torte herstellt, über schöne Cafés am Bodensee, über das Wandern im Schwarzwald.
Die Homepage von Torten-Thomas ist vollgepackt mit Fotos von Kuchenstücken, fein portioniert auf einer Gabel. Unter „Selbstgebackenes“ finden sich eine Sacher-Schnitte und eine Apfelwähe – aus der Zeit, als er noch backte. Er berichtet über seine Café-Besuche: „Fahrt nach Furtwangen zur besten Schwarzwälder Kirschtorte“. „Wunderbares Café in Meersburg entdeckt“. „Besuch des Café Goldene Krone in St. Märgen“.
Torten-Thomas ist ein groß gewachsener, bulliger Mann mit Bart und Halbglatze. Seinen Namen gab er sich schon, bevor er den Stammtisch gründete. Als er noch im Altenheim arbeitete, wurde er „Pfleger Thomas“ genannt. So kam er auf Torten-Thomas. Heute betreibt er einen ambulanten Pflegedienst mit 30 Mitarbeitern in Merzhausen bei Freiburg. Außerdem organisiert er Gesprächskreise für Männer – die konnte er bisher aber noch nicht überzeugen, beim Stammtisch vorbei zu schauen.
Ein Samstag, 14 Uhr. Das Café „Die Kaiserin“ in einem Freiburger Gewerbegebiet ist ein Zweckbau unterhalb eines Fitnessstudios mit Betonwänden und Selbstbedienung. Sich in der Innenstadt in einem schicken Kaffeehaus zu treffen, sei kaum möglich, sagt der Torten-Thomas. Zu viel los. Dafür sind die Kuchenfreunde in der „Kaiserin“ fast unter sich, 14 Frauen und fünf Männer mit Namensschildern sitzen an den Tischen im hinteren Bereich. Torten-Thomas hält keine Eröffnungsansprache. Er sagt nur: „Wir müssen nicht vor nackten Tischen sitzen.“ Einer nach dem anderen läuft zur Auslage, die große Auswahl bietet: Sacher, Wiener Nusstorte, Schokosahnerolle, Himbeer-Joghurt-Sahne-Torte, Frankfurter Kranz, Schwarzwälder Kirsch.
Den Schweizer Nusszopf isst Torten-Thomas mit Messer und Gabel
Zurück am Tisch sagt Torten-Thomas zu seiner Sitznachbarin: „Ah, du hast den Bienenstich aufgeklappt.“ Er selbst isst ein Stück Schweizer Nusszopf – mit Messer und Gabel, er mag keine klebrigen Hände. Zuerst immer den äußeren Plunderteig mit Nussfüllung, dann den Vanillepudding in der Mitte. Gegenüber sitzt Olaf, 63. Er stibitzt seiner Nachbarin die Himbeere vom Teller und sagt erschrocken: „Die war eingefroren, das musst du mir sagen!“
Um für den Stammtisch zu werben, schaltete Torten-Thomas eine Kleinanzeige in der Lokalzeitung, Rubrik Hobby- und Reisepartner. Er fertigte weiße Motto-Shirts und weiße Kappen an. Darauf ist ein Stück Schokoladentorte abgebildet, darunter steht „Torten Thomas Tortenfreunde“. Solche Shirts sind gut fürs Gemeinschaftsgefühl. Wer will, kann sich eins kaufen für zehn Euro.
Zwar achten immer mehr Menschen auf die Ernährung, und jeder vierte Erwachsene in Deutschland ist übergewichtig. Aber mal ein Stück Linzer oder Schwarzwälder Kirschtorte, was ist schon dabei?
Thomas achtet sehr wohl auf sein Gewicht. Als er sich im März wog, erschrak er: 88 Kilo. Das waren acht zu viel und „ein Alarm“, erzählt er. Damals hatte er zwei Touren durch Cafés in ganz Deutschland und Österreich hinter sich. Seitdem isst er nicht mehr jeden Nachmittag ein Stück Kuchen, ein paar Kekse tun es auch mal. Er meldete sich im Fitnessstudio an und geht nun dreimal die Woche hin, macht Kraftübungen, trainiert seine Ausdauer. Auch an diesem Morgen war er schon dort.
Wie er auf die Idee mit dem Stammtisch gekommen sei, wird er immer wieder gefragt. Er suchte halt Leute, mit denen er seine Begeisterung für Kuchen und Torten teilen konnte. Seine Partnerin, eine Künstlerin mit eigenem Atelier, hat keine Zeit und Lust, ihn ständig in Cafés zu begleiten.
Für seine drei jüngere Schwestern machte er Marzipan-Nuss-Torten
Früher bewirtete Thomas seine drei jüngeren Schwestern mit Schokopudding, den er in seinem Zimmer mit Milch aufschlug. Da war er zwölf Jahre alt. Dann machte er für die drei kleinen Kinder Lübecker Marzipan-Nusstorte. Irgendwann fühlte er sich alt genug, um selber in Cafés zu gehen. Er liebt Sahnetorten – „am liebsten mit Schokolade“. Zum Beispiel die wunderbare Schokoladenmousse-Torte mit hellen und dunklen Anteilen. Hauptsache mit Sahne.
Bei der Torten-Runde im Gewerbegebiet wechselt Thomas häufig den Platz, als wolle er alle Gespräche mitbekommen. Fünf neue Kuchenfreunde sind dabei. Sabine Henninger sitzt vor einem Rhabarber-Baiser-Kuchen, beginnt wie immer mit der Spitze und isst in „schönen, kleinen“ Stücken. „Ich lasse sie mir auf der Zunge zergehen.“ Sie schmeckt einzeln den Boden, den Rhabarber, das Baiser. „Ich schlucke nicht einfach herunter.“ Die 65-Jährige mag am liebsten „dicke, fette Creme- und Sahnetorten“. Wenn sie daheim mal was gebacken hat, verschenkt sie oft noch Kuchenstücke an Nachbarn, weil sie und ihr Mann nicht alles schaffen. Die freuen sich dann über Linzer Torte, Käsekuchen, Heidelbeer-Muffins. „Kuchen backen tut der Seele gut, man kreiert etwas.“
Eine andere Teilnehmerin ist am nächsten Tag zum Geburtstag eingeladen und wird eine Preiselbeer-Torte mitbringen. Wie sie die macht? „Ganz einfach mit Quark und Preiselbeeren. Drei Schichten, Mandelsplitter oben drauf, außen verzieren mit Herz oder Jahreszahl und Namen.“
Was ist das Schöne am Stammtisch? „Wir sind soziale Wesen, wir brauchen den Austausch“, sagt Andreas Lange, 64, Soziologe-Professor an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Es gebe eine Sehnsucht, mit anderen Menschen zusammen zu sein – besonders nach der Corona-Pandemie. „Kommunikation ist für uns wie für Tiere die Fellpflege.“ Sich zu treffen sei eine völlig andere Form der Vergemeinschaftung, als in einer Whatsapp-Gruppe zu schreiben. „Weil man sich riecht und fühlt. Man freut sich darauf, Neues zu erfahren.“
Am Stammtisch werden soziale Normen ausgehandelt
Lange bezeichnet die Gespräche am Stammtisch als „sozialen Klatsch“, der zwei Komponenten habe. Zum einen den Informationsaustausch: Hast du schon gelesen? Hast du schon gehört? Zum anderen gehe es um Positionierung. „Je nachdem, wie ich eine Information vermittle, mache ich deutlich, wie ich selber dazu stehe und wo ich damit sozial verortet bin.“ Etwa: „Habt ihr die Tochter von dem gesehen? Also wie die rumläuft; das geht ja überhaupt nicht.“ Am Stammtisch würden soziale Normen ausgehandelt, das könne stärken, positiv sein, aber auch in Richtung Verleumdung gehen. „Man hat etwas aus einer unsicheren Quelle und stellt es als Wahrheit dar.“
Das Flapsige und Lustige machten gerade den Unterschied zu einem wissenschaftlichen Seminar aus, sagt Andreas Lange. Der Stammtisch sei ein spezielles Kommunikationsformat: „Wenn Leute verleumdet werden, ist das nicht schön. Aber man kann den Stammtisch nicht mit dem Bundestag vergleichen.“ Die Leute hätten Spaß und argumentierten auf einer subtilen Ebene. „Da gibt es immer auch Experten für einen bestimmten Bereich“. Das Wort „reaktionär“ möge zutreffen, meint Lange. „Aber zu sagen, die Leute am Stammtisch seien einfältig und könnten nicht argumentieren – da wäre ich vorsichtig.“
Er selbst ist zwar kein Mitglied eines Stammtisches, geht aber dreimal die Woche in ein schönes Restaurant und beobachtet, wie die Leute hereinkommen, wie ihre Gesichter dann strahlen. „Und das, obwohl man sich zum vielleicht hundertsten Mal sieht.“ Der Stammtisch sei besonders auf dem Dorf eine wichtige Institution, in einer Stadt lockten viele andere Aktivitäten.
Gegen Ende, um 16 Uhr, sitzen noch zwölf Tortenfreunde an den Tischen. Sabine Henninger verabschiedet sich. Zum nächsten Treffen in einem Monat will sie wiederkommen. Aber erst mal steht ein anderes leckeres Event an: In zwei Wochen besichtigen die Tortenfreunde eine Backstube – jene, die auch ihr angestammtes Café „Die Kaiserin“ beliefert. Der Eintritt wird gratis sein, die Süßen sind ja Stammgäste.