Im Einzelhandel gibt es oft nur befristete Mini- oder Teilzeitjobs und wenig Stundenlohn – Außerdem fällt immer mehr Arbeit in die Abendstunden . Foto: dpa-Zentralbild

Der Einzelhandel zählt in Deutschland zu den Branchen mit den meisten Beschäftigten. Auch bei den Auszubildenden liegt der Einzelhandel im Trend. Doch die Arbeitsbedingungen sind oft unsicher und schwer berechenbar. Am 26. September ist im Land die nächste Tarifverhandlungsrunde.

Stuttgart - Drohungen, Schläge, Raub. Unter den Verkäuferinnen in Deutschland können wohl wenige Frauen so viel über Gewalt am Arbeitsplatz erzählen wie die ehemaligen Beschäftigten der pleitegegangenen Drogeriemarktkette Schlecker. Da die Verkäuferinnen dort abends meist allein im Laden standen, hatten es die Einbrecher auf sie abgesehen. Doch auch nach Schlecker ist das Kapitel Raubüberfälle nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Die Gefahr steigt.

Denn wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Linke) hervorgeht, arbeiten immer mehr Verkäuferinnen in den Abendstunden. Laut der Berufsgenossenschaft Handel und Warendistribution (BGHW) in Mannheim finden jedoch genau dann die Überfälle statt. Demnach passieren drei von vier Übergriffen im Lebensmitteleinzelhandel in den beiden Stunden vor und nach dem Ladenschluss.

Das Bundeskriminalamt verzeichnet 2012 insgesamt 4748 Raubüberfälle auf Geschäfte. Das sind zwar 80 Überfälle weniger als im Vorjahr, jedoch rund 28 Prozent mehr als noch 1990. Weniger als die Hälfte der Fälle (46,8 Prozent) werden derzeit aufgeklärt. Nach Angaben der BGHW passieren die meisten Überfälle in Lebensmittelläden, Drogeriemärkten und Tankstellen.

Allein in Baden-Württemberg ist die Zahl der Raubüberfälle auf Lebensmittelgeschäfte zwischen 2008 und 2012 um über 27 Prozent auf 159 gestiegen. In Stuttgart wurden im vergangenen Jahr 40 Verkäuferinnen überfallen, 2009 waren es 17.

Unternehmen scheinen Gefahr nicht ernst zu nehmen

Für viele Mitarbeiter ist die Karriere im Einzelhandel nach einem Überfall beendet. Sie trauen sich nach dem Unglück oft nicht mehr in den Laden. Doch die meisten Unternehmen scheinen die Gefahr nicht ernst zu nehmen. Die Berufsgenossenschaft empfiehlt den Firmen, zur Vorbeugung von Raubüberfällen sogenannte Gefährdungsbeurteilungen zu erstellen. Aber: Branchenweit führt nur rund die Hälfte (51 Prozent) der Betriebe diese Risikoanalyse durch.

„Die Aufgabe der Gefährdungsbeurteilung ist es, mit einer gewissen Systematik die Gefährdungen im Betrieb zu erkennen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, deren Wirksamkeit zu überprüfen und zu dokumentieren“, sagt Siegrid Becker, Referentin bei der BGHW. Dies gelte auch für den Umgang mit Geld an der Kasse oder im Tresorraum.

Nur wer die Gefahrstellen erkennt, kann auch Gegenmaßnahmen ergreifen und Raubüberfällen vorbeugen . „Ich kann es jedem Unternehmer in seinem eigenen Interesse und zum Wohl seiner Mitarbeiter nur ans Herz legen, sich rechtzeitig mit dem Thema zu beschäftigen“, sagt Siegrid Becker den Stuttgarter Nachrichten.

Davon haben die Mitarbeiter jedoch zunächst einmal wenig. Wie aus der Antwort der Bundesregierung hervorgeht, arbeiten immer mehr Verkäuferinnen während der riskanten Arbeitszeiten.

2012 arbeiteten 2,3 Millionen oder 78 Prozent der Erwerbstätigen im Einzelhandel am Wochenende, feiertags, abends oder in der Nacht. 1993 waren es noch 1,7 Millionen oder 61 Prozent. Die Abendarbeit ist von 27 Prozent im Jahr 1996 auf 54 Prozent in 2012 gestiegen. Und es wird auch immer mehr feiertags und sonntags gearbeitet. 1993 traf dies noch auf 6,8 Prozent der Beschäftigten zu, 2012 schon auf 17,3 Prozent.

Bundesregierung fühlt sich nicht zuständig

Nach Angaben der Bundesregierung steigt die Gefahr, krank zu werden, bei häufiger Spät- und Wochenendarbeit auch ohne Raubüberfälle. So schreibt die Regierung, dass „häufige Samstagsarbeit und Abendarbeit“ zu „gesundheitlichen Beeinträchtigungen“ führe und das „Risiko für physische beziehungsweise psychosoziale Beeinträchtigungen“ erhöhe. Zudem würde Arbeit „in den Abendstunden oder an Wochenenden und Feiertagen zu Beeinträchtigungen des Soziallebens führen“.

Einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, um die Arbeitszeiten stärker einzuschränken, sieht die Politik trotzdem nicht.

Die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann greift die Regierung für „ihre Untätigkeit“ scharf an: „Arbeitgeber begehen Tarifflucht oder kündigen Tarifverträge, um Arbeitsbedingungen massiv zu verschlechtern, und die Bundesregierung redet von Tarifautonomie, die sie nicht antasten will“, sagte sie. „Das ist eiskalter Zynismus gegenüber den Millionen meist weiblichen Beschäftigten im Einzelhandel.“

Die Bundesregierung aber fühlt sich nicht zuständig: „Die konkrete Ausgestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen“ würde „vorrangig den Tarifvertragsparteien beziehungsweise den Arbeitsvertragsparteien“ obliegen, teilt sie mit.

Doch genau an diesem Punkt hakt es derzeit. Der Handelsverband und die Gewerkschaft Verdi befinden sich in einem der kompliziertesten Tarifkonflikte der Geschichte. Denn Anfang des Jahres haben die Arbeitgeber fast bundesweit sämtliche Verträge mit der Gewerkschaft gekündigt. Verdi hatte sich in den Jahren davor gegen eine Modernisierung der Verträge gesträubt. Hauptstreitpunkte sind ausgerechnet die Zuschläge für Kassiererinnen und die Spätarbeitszeit. Laut der Berufsgenossenschaft sind aber besonders Kassiererinnen gefährdet. Am 26. September werden die Verhandlungen in Baden-Württemberg fortgesetzt.