Eine weiße Rose zu jedem Geburtstag: Der frühere Soldat LeRoy W. Homer, Jr., gehörte zur Besatzung des Fluges American Airline 93, den Terroristen in das US-Verteidigungsministerium Pentagon stürzten. Foto: Feyder/Feyder

Vor 21 Jahren steuerten Terroristen Flugzeuge in die Zwillingstürme des World-Trade-Centers und das Pentagon. Heute sind mehr Menschen an den Folgen der Anschläge verstorben, erkrankt oder verletzt, als bei den Angriffen selbst: fast 30 000 zusätzliche Opfer hat 9/11 bislang verursacht.

Sie sind alle gekommen. Der junge Marineinfanterist in Paradeuniform: Glänzend schwarze Schuhe, weiße Hose, blaue Jacke, weiße Schirmmütze. Seine Verwandten in Anzug und Sonntagskleid. Der Rocker aus Florida in schwarzer Shorts, T-Shirt, Kutte und mit schulterlangem Zopf. Die junge Frau in Bustier und Hotpants verzieht ihren Mund zum Kuss, Lächeln und Schmollen, während sie sich selbst fotografiert. Der alte Mann, der in sandfarbener Hose und grünem Polo vor dem Brunnen kniet. Seine Rechte tastet über die Buchstaben in der Bronzeplatte vor ihm, Tränen laufen über seine Wangen. Zwei Wasserfälle schlucken den Lärm New Yorks auf dem zwei Fußballfelder großen Flecken im Herzen der Millionenstadt.

Laut ist hier nur Aaron: Fast zwei, blonde Locken, Pausbäckchen. Der Knirps juchzt und lacht. Seine Beinchen wirbeln, während er seine Kinderkarre zwischen die jungen Eichen lenkt. Über das Gesicht des knienden Alten huscht ein Lächeln. Ein letztes Mal fahren Zeige- und Mittelfinger über die Buchstaben vor ihm: Suria Rachel Emma Clarke. Eine weiße Rose steckt im R von Rachel, weil sie am 27. August Geburtstag hat: 51 wäre sie heute geworden.

Hätten Mohammed Atta, Abdulaziz al-Omari, die Brüder Wail und Waleed al-Sherhri sie am 11. September 2001 nicht ermordet. Als die vier um 8.46 Uhr die Boing 767 des Fluges American Airline 11 (AA 11) in den Nordturm des World Trade Centers (WTC) stürzten.

Mehr Tote durch die Folgen als durch den eigentlichen Anschlag

2977 Menschen wurden an diesem Tag Opfer der Anschläge der Terrorgruppe al-Qaida. In New York, Washington und Shanksville bei Pittsburg. Von 1108 fehlt bis heute jede gerichtsmedizinisch verwertbare Spur. Verdampft. Mehr als 3900 Menschen starben bis heute an den Folgen des Angriffes: Durch den Einsturz der Zwillingstürme wurde eine Giftwolke eingesetzt, die Krebs verursacht. Die Lungenfunktion von jedem der mehr als 5000 eingesetzten Feuerwehrmänner ist heute noch eingeschränkt, wie eine Studie im April 2010 nachwies. Mehr als 25 000 Menschen wurden während des Terroranschlags verletzt oder erkrankten bis heute an dessen Folgen. Erst 2019 hat der Kongress möglichen Opfern ermöglicht, bis 2090 Ansprüche zu stellen, um Gelder aus einem Opferfonds zu bekommen.

9/11 – ein Anschlag, den al-Qaida-Chef Osama bin Laden Ende Oktober 2000 erdachte. Er glaubte, dass „die gesamte muslimische Welt der Herrschaft blasphemischer Regime und der amerikanischen Hegemonie unterworfen ist“. Der Angriff sollte „die Angst vor diesem falschen Gott brechen und den Mythos der amerikanischen Unbesiegbarkeit zerstören“. Der Absturz des Egypt-Air Fluges 990 am 31. Oktober 1999 über dem Atlantik hatte den Saudi auf die Idee des Flugzeugsangriffs gebracht. So notierte er es in einem Spiralblock. US-Elitesoldaten der Navy Seals stellten mehr als 470 000 Dateien und Dokumente in bin Ladens Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad sicher, als sie ihn dort am 2. Mai 2011 in einem 18-minütigen Einsatz erschossen.

Kanonenfutter für bin Ladens Sache

Aus den Unterlagen geht hervor: Unmittelbar nach den Anschlägen in den USA begann der Topterrorist, neue Anschläge in den und gegen die USA und den Westen zu planen: Züge sollten entgleisen. Auf und in Häuser stürzen. In Bahnhöfen explodieren. Auf den Weltmeeren sollten Öltanker angegriffen und versenkt werden. Umweltschäden sollten entstehen, Energie künstlich reduziert werden. Und er wollte die elektrisierende Wirkung ausnutzen, die der Angriff im Spätsommer 2001 seitdem auf tausende junger Muslime in der ganzen Welt entfaltet: Bis heute sind sie Kanonenfutter für bin Ladens Sache.

Ungerührt vom Leid der Opfer, denen im Herz des 9/11-Museums Gesicht gegeben wird: Ihre Fotos hängen deckenhoch dort, wo einmal die Fundamente der beiden WTC-Türme standen. In einem abgedunkelten Quader erscheinen die Bilder der Menschen an den Wänden, die in den vier Flugzeugen saßen, die in den Türmen arbeiteten und von denen, die ihnen zur Hilfe eilten – und die alle starben. Freunde und Verwandte erinnern, oft mit stockender Stimme, an sie.

Den Opfern ein Gesicht geben

An den Feuerwehrhauptmann Terence S. Hatton, dessen Frau Elizabeth einen Tag nach den Anschlägen erfuhr, dass sie schwanger war. An den elf Jahre alten Rodney Dickens, dem Sechstklässler, der einen Schülerwettbewerb zu nachhaltigen Umweltprojekten gewann. Und deshalb mit zwei Klassenkameraden und zwei Lehrern nach Santa Barbara eingeladen worden war, um an einem Workshop teilzunehmen. Wrestling habe er geliebt, dafür habe er alles stehen und liegen lassen, erzählt seine Tante. Oder die 53 Jahre Cheryle Sincock, die es liebte, ihren Verwandten und Freunden Telefonstreiche zu spielen: „Sie war da wie ein Kind – und lachte auch so, wenn sie jemanden an der Nase herumgeführt hatte.“

Bis sich die drei Flugzeuge in das WTC und das Pentagon bohrten. Für viele tun sie das heute immer noch. Für manche jeden Tag. Menschen, die sich schuldig fühlen, weil sie den 11. September 2001 überlebten. „Es gibt Augenblicke, da ist es, als würde es gerade im Moment geschehen“, sagt Harry Waizer.

Oben ist der Tod, unten das Leben

Der 71-jährige war mit dem Aufzug auf dem Weg in sein Büro im 104. Stock, als AA 11 in den Nordturm einschlug. Durch den Schlitz der silbernen Aufzugtüren traf ihn ein Feuerball, verletzte ihn schwer. 95 Prozent seiner Haut verbrannten. „Der Lift sackte ab, der Turm schwankte“, erinnert er sich noch. Über die Feuertreppe schafft er es irgendwie nach unten. Vorbei an Feuerwehrleuten und Sanitätern, die keuchend mit Schläuchen und Atemgeräten an ihm vorbei aufwärts eilen. Raus aus dem Turm. Unter den sonnigen, fast wolkenlosen Himmel. Sieben Wochen später wacht er auf. Zigmal operiert. Er lebt – anders als viele, die er glaubt, im Stich gelassen zu haben.

Drei Menschenströme habe es in den Treppenhäusern gegeben, über die Hunderte dem Inferno entkamen, erinnert sich Bruno Dellinger, der im 47. Stock des Nordturms arbeitete. Eine der Treppen ist im 9/11-Museum zu sehen: „Da waren die Verletzten, die, die keine Haut mehr hatten, keine Haare, nur Verbrennungen. Die von anderen getragen wurden, um nach unten zu kommen.“ Die zweite Gruppe seien „normale Leute wie ich“ gewesen. Ihnen entgegen kam die dritte: Feuerwehrleute, Helfer.

„Die waren erschöpft. In den Augen von einigen von ihnen konnte man sehen, dass sie etwas wussten, dass es gefährlich war. Sie gingen nach oben in den Tod. Ich nach unten, um zu leben“, sagt er leise. Tränen füllen seine blauen Augen. 50 Minuten brauchte er bis auf die Straße. Verließ als einer der letzten den Nordturm. „Wäre ich nur zehn Sekunden später aufgebrochen, dann wäre ich tot.“

Nie gefüllte Bassins

Einige, die den Tag überlebt haben, werden am 11. September wieder zurückkehren an den Ort der Anschläge. Dort, wo die Zwillingstürme standen, sind heute fast einen Hektar große Bassins. Die größten künstlich geschaffenen Wasserfälle der USA. Wasser rauscht erst in ein neun Meter tiefes Becken, ergießt sich dann in ein kleineres, sechs Meter tiefes. Gefüllt werden können die beiden Pools nie. Wie auch der Verlust der 2977 Menschen nie ersetzt werden kann, die hier vor 21 Jahren starben. „Ehre und Erinnerung“ ist auch deshalb das Motto der Gedenkstätte.

An der rauschen die Wasserfälle. Sie übertönen den Lärm der Stadt, die nie schläft. Nur das Juchzen und Lachen von Aaron vermag das Wasser nicht zu schlucken. Seine Beinchen wirbeln, der Kinderwagen rast zwischen die Eichen rund um den früheren Nordturm. Aaron lacht.