Gerard Mandjes (ganz links) vor der Milchverwertung in Balingen. Foto: Mandjes

Wie haben Baden-Württemberger das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt? In diesem Jahr haben wir zahlreiche Erinnerungen unserer Leserinnen und Leser veröffentlicht. Die Serie endet mit einer etwas anderen Geschichte, die sich erst im Jahr 2015 ereignet hat.

Balingen - Jutta Roßberg (69) aus Balingen erzählt, wie das Jahr, in dem sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal jährte, für sie zu einem ganz besonderen wurde.

„Diese Geschichte ist so von Zufällen geprägt. Wenn ein Rad nicht in das andere gegriffen hätte, hätte ich Gerard, den freundlichen Holländer, nie kennengelernt.

Eines Tage in diesem Juli kam ich vom Einkaufen nach Hause und hatte die Nachricht einer guten Bekannten auf meinem Anrufbeantworter. Ich war überrascht, da wir uns in der Regel nur zu Geburtstagen und zu Weihnachten anrufen. Sie erklärte kurz, sie habe mir eine kleine rührende Geschichte zu erzählen, die mich sicher interessiere – und wohl auch beträfe.

Vorausschicken muss ich, dass es sich bei meiner Bekannten Ursel um eine frühere Mitarbeiterin meines Vaters handelt, der bis in die 1950er Jahre Inhaber der einzigen Apotheke in Balingen und Umgebung war. Ursel hatte bei ihm gelernt und war der Apotheke bis zu ihrer Übergabe an einen Nachfolger Mitte der 1990er Jahre treu geblieben. Inzwischen arbeitet sie in einer der Apotheken der Kernstadt Balingen.

Ein alter Herr mit Panama-Hut kam in die Apotheke

Neugierig rief ich zurück, und Ursel erzählte folgende Begebenheit:

Vor einigen Tagen habe ein alter Herr, einen Panama-Hut tragend und gut gekleidet, die Apotheke betreten, sich umgeschaut und habe sie schließlich angesprochen. Mit holländischem Akzent sagte er ihr, er sei auf der Suche. Er habe sich in den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges in Balingen aufgehalten und komme so gut wie jedes Jahr hierher zurück. In all den Jahren habe er unter anderem immer wieder nach einer damals jungen Frau gesucht, die er Ende 1945 in seinem Lieferwagen mitgenommen und nach Rosenfeld gefahren habe. Sie müsse wohl heute so zwischen 88 und 90 Jahre alt sein. Die Frau sei schwanger gewesen. Er habe sie zu Fuß am Straßenrand gehen sehen und sie gefragt, ob er sie mitnehmen könne. Auf der Fahrt habe sie unter anderem gesagt, sie käme „aus der Apotheke“. Mehr wusste der alte Herr nicht über die junge Frau. Nun wolle er erfahren, was aus ihr geworden war.

Die Geschichte hat Ursel sehr berührt. Dem alten Herrn hat es wohl sehr viel bedeutete, diese Frage zu klären. Da ihr keine Idee kam, was der Geschichte zugrunde liegen könnte, sagte sie ihm, es täte ihr leid, sie könne ihm wohl nicht weiterhelfen. Mit Bedauern und der Äußerung, dass er wohl dieses Jahr zum letzten Mal nach Balingen gekommen sei, verabschiedete sich der alte Herr von Ursel und verließ die Apotheke.

Der alte Herr und seine Geschichte kreisten weiter in Ursels Kopf

Die Begegnung ließ Ursel keine Ruhe. Der alte Herr und seine Geschichte kreisten weiter in ihrem Kopf. Sie rekapitulierte die Umstände, von denen er berichtet hatte: Ende 1945, eine junge schwangere Frau, die „aus der Apotheke“ kam und nach Rosenfeld wollte . . . Und plötzlich realisierte sie: Die schwangere junge Frau konnte nur ihre frühere Chefin gewesen sein, die damals in der einzigen Apotheke in Balingen beschäftigt war – und in Rosenfeld wohnte.

Schnell lief Ursel auf die Straße, wollte den alten Herrn noch erwischen, um ihm ihre Erkenntnis mitzuteilen – aber als sie die Friedrichstraße rauf und runter blickte, konnte sie ihn nicht mehr sehen. Damit schien die Geschichte für sie zwar mit großem Bedauern, aber dennoch abgehakt.

Einige Tage später ging Ursel an einem Café vorbei, als von innen ans Fenster geklopft wurde. Es war die frühere Hausgehilfin meiner Eltern, die zu meiner Kinderzeit in unserem Haushalt tätig war. Sie winkte Ursel herein. Die beiden Frauen unterhielten sich kurz – und Ursel fiel die Geschichte von dem Herrn mit dem holländischen Akzent wieder ein.

Ich hatte die Telefonnummer, musste mich aber erst mal sammeln

Rose, die ehemalige Haushälterin, sagte, sie habe eine Freundin, bei der seit Jahren – so auch dieses Jahr – im Sommer für einige Wochen ein alter Herr aus Holland wohne. Beiden war schnell klar: Das muss ein und derselbe Herr sein. Rose rief also ihre Freundin an, damit die ihrem holländischen Gast sagen konnte, dass seine Erkundigungen in der Apotheke möglicherweise doch zu einer Lösung geführt haben könnten. Damit endeten Ursels Informationen für mich.

Von Roses Freundin erfuhr ich den Namen des holländischen Gastes, der zu der Zeit bereits wieder abgereist war – und sie hatte auch einige Hintergrundinformationen für mich. Zum Beispiel, dass es sich bei ihrem Gast um einen ehemaligen Zwangsarbeiter handelt. Ich erhielt seine Adresse und Telefonnummer.

Und musste mich erst einmal sammeln: Wie spricht man einen völlig unbekannten alten Herrn an? Wie erklärt man ihm, dass man eine ihm so wichtige, lange zurückliegende Frage beantworten kann?

Ich war innerlich sehr angespannt

Ich muss gestehen, ich war innerlich sehr angespannt, als ich dann die Telefonnummer in Holland gewählt habe. Er meldete sich mit seinem Namen „Gerard Mandjes“, ich nannte ihm meinen und sagte: „Entschuldigung, Sie kennen mich nicht“, und erinnerte ihn an seinen Besuch in Balingen. Auf meine Frage „und die junge Frau, die Sie damals nach Rosenfeld gefahren haben, sie war schwanger?“, kam ein „Ja“. Worauf ich sagte: „Die Schwangerschaft von damals, das bin ich.“

Gerard Mandjes, heute 94 Jahre alt, hatte nach seinem letzten Besuch in Balingen mit nichts mehr gerechnet. Er war überrascht – und schlicht überwältigt. Doch gleich während unseres ersten Telefonats sagte er: Du musst mich besuchen. Doch ich hatte Bedenken: Ein fremdes Land, eine fremde Sprache, ein fremder Mann – und das ganz alleine? Ich wusste nicht, ob ich mir das zutraue. Schon zwei Tage später rief er wieder an – die Geschichte hatte ihn so beschäftigt.

Als ich mich am 1. August mit ehemaligen Schulkameradinnen zum alljährlichen gemeinsamen Mittagessen traf, erzählte ich ihnen von dem Mann aus Holland. Alle waren der Meinung: Da musst du hinfahren, du wirst es sonst bereuen. Einen Tag später kam die Mail von meiner alten Freundin Eva: „Ich würde dich begleiten.“

Ich machte mich mit meiner Freundin Eva auf den Weg

So machten wir uns auf den Weg nach Den Haag. Als wir Gerard trafen, den doch eigentlich fremden Mann, haben wir ihn gleich erkannt. Beim Essen hat er uns dann seine Geschichte erzählt.

Wie er als junger Mann, damals 22 Jahre alt, 1943 in Holland von den Nazis aufgegriffen und als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht wurde. Wie er nach Balingen kam, auf dem Arbeitsamt den Leiter der Milchverwertung traf, der ihn als Kraftfahrer gebrauchen konnte. Wie er von da an von den Höfen der Umgebung den Rahm abholte, den die Bauern von der Milch schöpften, damit daraus in Balingen Butter hergestellt werden konnte – und wie er so auch mal in Richtung Rosenfeld unterwegs war.

Schon bald war der freundliche Holländer in Balingen bekannt: Viele wussten, wann er unterwegs war, stellten sich an den Straßenrand und wurden von ihm mitgenommen. Und so kam es, dass er diese junge schwangere Frau in der Bahnhofstraße – meine Mutter Lotte war damals 23 Jahre alt – fragte, ob er ihr nicht helfen könne. Er musste zwar nur nach Erlaheim, fuhr die Dame aber bis nach Rosenfeld.

Meine Mutter starb im Sommer 2013

1945 ging Gerard Mendjes zurück nach Holland, heiratete, gründete eine Familie. Auf dem Weg in den Urlaub zog es ihn immer wieder an Balingen vorbei. Er hat die Menschen aufgesucht, die ihm die Zeit in Balingen so angenehm gemacht hatten. Nur diese junge Frau – er konnte nie in Erfahrung bringen, wer sie war.

Nun weiß er es. Meine Mutter starb im Sommer 2013. Sie hat er nicht mehr wieder getroffen. Aber dass er zufällig in der Apotheke landete, zufällig an einem Tag, an dem Ursel dort arbeitete und zufällig genau ihr diese Frage stellte und so alles ins Rollen kam, ist ein riesen Glück. Wir telefonieren seitdem jedes Wochenende. Und immer sagt er: Wenn ich im nächsten Jahr wieder nach Balingen komme, werde ich dich besuchen.

Aufgezeichnet von Almut Siefert