Vor 70 Jahren war Stuttgart vom Krieg zerstört. Foto: dpa

Viele Zeitzeugen erinnern sich noch immer intensiv an den Zweiten Weltkrieg, der vor 70 Jahren endete. Was man aus ihren Berichten lernen kann? Dankbar zu sein, findet Kathrin Brenner in ihrem Kommentar.

Stuttgart - Nicht wenige Deutsche meinen, sie seien arm dran. Würden von der Politik inakzeptabel gegängelt. Oder von Flüchtlingen überrannt. War nicht früher alles besser? Der Unterricht an den Schulen, und das Verhalten der Jugend sowieso? Und dann erst die ständigen Staus heutzutage! Über das und vieles mehr lässt sich wunderbar klagen und jammern. Man legt die Stirn in Sorgenfalten und macht den Satz „Es geht nur noch bergab“ zur Lebenseinstellung. Und tatsächlich: Wer sucht, wird jeden Tag etwas finden, das ihm diese Einstellung zu bestätigen scheint.

Dabei lohnt es sich innezuhalten. Sich ein paar Fragen zu stellen: Sitze ich bequem? Kann ich diese Zeilen mühelos lesen? Bin ich satt? Und gesund? Gibt es Menschen, die für mich da sind? Habe ich einen Arbeitsplatz und ein Dach überm Kopf? Kommt sauberes Trinkwasser aus dem Wasserhahn? Habe ich genug Geld auf dem Konto, um – gleichwohl bescheiden – nicht jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen? Herrscht Frieden im Land? Wer alle diese Fragen mit Ja beantworten kann, darf sich glücklich schätzen. Denn er gehört zu einer privilegierten Minderheit auf dieser Welt, mit der Milliarden Menschen gern tauschen würden.

Vor 70 Jahren sah das in Deutschland ganz anders aus, wie viele Zeitzeugen in unserer Serie „70 Jahre Kriegsende – Leser erinnern sich“ eindrücklich schildern. Eine heute 76-jährige Leserin beschreibt, wie sie als Kind mit ihrer Familie nach tagelanger Flucht und von Hunger gequält spontan von einer Frau in Wien aufgenommen worden war, zu essen bekam und in einem weichen Bett schlafen durfte: „Ich dachte, ich sei im Himmel.“

Intensive Erinnerungen an das Grauen

Ein Leser berichtet, wie er als Achtjähriger in den Kriegswirren zwei Jahre lang auf sich allein gestellt war. Erst an dem Tag, an dem er wieder bei seiner Mutter war – am 28. Oktober 1947 –, „erst da war der Krieg für mich zu Ende“, schreibt er. „Ich habe geheult, weil meine Mutter mich von der Schule nehmen wollte“, erinnert sich eine Frau, deren Familie das Schulgeld nicht mehr auftreiben konnte. Und eine andere berichtet, wie sie als 14-Jährige vergewaltigt wurde: „Sieben Männer sind nacheinander über mich hergefallen.“ Viele Zeitzeugen haben 70 Jahre nach Kriegsende noch intensive Erinnerungen an das Grauen von damals.

Was lehren uns diese Berichte für die Gegenwart? „Ich bin heute so zufrieden mit allem, was ich habe. Ich hoffe, dass die Leute sich vor Augen führen, wie gut es uns geht“, sagt eine Zeitzeugin. Das allerdings scheinen viele Menschen überhaupt nicht mehr richtig wahrzunehmen. Stattdessen sind sie nur damit beschäftigt, sich gegen jene zu stemmen, von denen sie glauben, dass sie ihnen alles wegnehmen.

Gewalt und Hass dürfen nicht gewinnen

Doch wer aus den Berichten der Zeitzeugen lernt, der spürt eine Verantwortung dafür, dass Gewalt und Hass nicht die Oberhand gewinnen dürfen. Wer dankbar ist für das, was er hat, verlässt seine ängstliche Selbstbezogenheit und öffnet den Blick für andere. Und sieht dann, für wie viele Menschen Sicherheit, Nahrung und ein Bett auch heute noch den Himmel auf Erden bedeuten. Noch immer bestimmen Kriege, Hunger und Flucht das Leben von Millionen.

Viele Bürger in diesem Land sind sich dessen bewusst und handeln danach. Sie unterstützen auf vielfältige Weise diejenigen, die es weit weniger gut haben als sie. Sie helfen Flüchtlingen, sind aufopferungsvoll da für alte, kranke oder arme Menschen. Unaufgeregt setzen sie mit ihrem Engagement ein starkes Zeichen gegen all jene, die lieber tatenlos schimpfen und klagen. Dabei fehlt es den Jammernden eigentlich nur an einem: an mehr Dankbarkeit.

k.brenner@stn.zgs.de