Der Angeklagte neben seiner Anwältin Anke Stiefel-Bechdolf. Foto: dpa

In Heilbronn soll ein Senior auf vier junge Männer eingestochen haben. Vor Gericht erinnert er sich nicht.

Heilbronn - Das passt nicht zusammen. Begleitet von obszönen Ausdrücken soll der Angeklagte am 17. Februar am späten Abend mitten in der Heilbronner Innenstadt mit einem Küchenmesser auf drei junge Flüchtlinge eingestochen und es bei einem vierten vergeblich versucht haben. Später, so die Anklage, habe der 70-Jährige diese Angriffe mit noch markigeren Sprüchen gegenüber Polizisten gerechtfertigt. Er habe ein Zeichen setzen wollen gegen über der aktuellen Flüchtlingspolitik, habe er den Beamten erklärt.

Seit Dienstag muss sich der Mann vor dem Heilbronner Landgericht wegen vierfachen versuchten Mordes verantworten. Auf der Anklagebank sitzt ein kleiner, alter Mann mit Glatze, grauem Schnäuzer, kariertem Hemd und einem zu großen blauen Pullover, der sagt, er könne sich an nichts mehr erinnern – außer, dass es ihm nicht gut ging vor der Tat und dass ihm hinterher die Handschellen weh getan haben.

Der alte Mann ist krank. Seit langem hat er Hautkrebs, er hat fünf Bypassoperationen hinter sich, in der Haft stellte man obendrein fest, dass er Diabetes hat. Der Senior ist der zweitjüngste Spross einer deutschstämmigen Familie, die von Georgien nach Kasachstan vertrieben worden war. Von seinen sieben Geschwistern erreichten nur er selbst und drei Brüder das Erwachsenenalter. Zusammen mit seiner Frau und der sechs Monate alten Tochter kam Willi B. 1991 nach Deutschland, um sich hier ein Leben aufzubauen. Eigentlich, sagt der Besitzer eines deutschen und eines russischen Passes von sich selbst, sei er ein unpolitischer Mensch.

Der Angeklagte hatte am Tattag getrunken

Der 17. Februar 2018 sollte ein Festtag sein. Die Tochter hatte tags zuvor Geburtstag gehabt, der Angeklagte kochte für die Festgesellschaft. Alkohol trinke er nur selten – und wenn, dann wenig, sagt er vor Gericht. An jenem Tag aber, so erzählte er es dem psychiatrischen Gutachter Kristian-Olav Rosenau, habe er einen Doppelkorn und Ramazotti getrunken. Nach der Tat wurden bei ihm knapp zwei Promille Blutalkohol gemessen. Dann sei er ins Bad gegangen. Dort sei ihm schwindlig geworden, er sei gestürzt und habe sich aufgerappelt. Danach endet seine Erinnerung.

Dafür erinnern sich die mutmaßlichen Opfer. Der 26-jährige Samer A. etwa: Der Iraker war erst seit einigen Monaten in Heilbronn, weil er bei einer kurdischen Bäckerei eine Arbeit gefunden hatte. Er habe am Marktplatz auf den Bus gewartet. Da habe sich ihm der Angeklagte von hinten genähert, ihn an der Schulter gepackt und sofort zugestochen. Reflexartig habe er seinen Arm hochgerissen. Die 19 Zentimeter lange Klinge durchbohrte seinen Unterarm.

Ohne Vorwarnung in den Bauch gestochen

Samer A. lief Richtung Rathaus davon. Vor der Kilianskirche soll der 70-Jährige sein zweites Opfer attackiert haben. Auch dem heute 18-jährigen Mohammad T., einem afghanischen Flüchtling, näherte er sich von hinten und stach ihm laut T. ohne Vorwarnung in den Bauch. Der junge Afghane stieß ihn von sich. Der 70-Jährige ging weiter zu Raid E., einem 19 Jahre alten Syrer, den er in den Oberbauch stach. Ein vierter Mann aus der Gruppe war durch den Tumult vorgewarnt. Als er angegriffen wurde, konnte er den Messerstichen ausweichen, heißt es in der Anklage. Danach wurde der Angeklagte überwältigt, geschlagen und neben Mohammad T. auf eine Bank gesetzt, bis die Polizei kam.

Der Angeklagte sagt vor Gericht nicht aus. „Mir ist diese ganze Geschichte so peinlich“, sagt der Senior. Den drei Verletzten hat er gleich Anfang März vom Gefängniskrankenhaus Hohenasperg aus je 2000 Euro überweisen lassen, obwohl er finanziell nicht auf Rosen gebettet ist. Die haben das Geld auch angenommen. Allerdings ist zumindest Mohammad T., der als Nebenkläger auftritt, von ungewöhnlicher Seite darum gebeten worden. Ihn hätten Polizisten besucht und ihm gesagt, es sei gut für ihn, das Geld zu nehmen. „Die Polizei, dein Freund und Helfer“, wie der Richter Roland Kleinschroth meint? „Das gehört ja nicht unbedingt zu den polizeilichen Aufgaben“, bemerkt hingegen T.’s Anwalt Joachim Klama spitz. Nur Raid E. hat die Entschuldigung des Angeklagten angenommen. Samer A. kann nicht mehr arbeiten, die linke Hand des Linkshänders ist taub, er hat Schmerzen, Panikattacken und Depressionen: „Sie haben mein Leben zerstört.“