„Heute sind Eltern auch in den Augen der Öffentlichkeit für alles verantwortlich, was ihren Kindern zustößt, wie sie sich entwickeln, was sie tun“, sagt Marie-Luise Lewicki, Chefredakteurin der Zeitschrift „Eltern“. Foto: dpa

Der Druck auf junge Familien wird immer größer. Das sagt Marie-Luise Lewicki, Chefredakteurin der Zeitschrift „Eltern“. Sie plädiert für weniger Perfektionismus.

Hamburg - Die Zeitschrift „Eltern“ kommt 1966 zum ersten Mal auf den Markt. Es ist die Zeit der sexuellen Befreiung und der Studentenbewegung. Ging es in dem Ratgebermagazin damals um Themen wie die Anti-Baby-Pille oder moderne Geburtsstationen, haben sich Marie-Luise Lewicki und ihr Team heute familiäre Diversität und den grassierenden Erziehungs-Perfektionismus auf die Fahnen geschrieben.

Seit 50 Jahren steht die Zeitschrift „Eltern“ Familien bei der Erziehung bei. Woran liegt es, dass Eltern heute ihre Aufgabe besonders schwierig finden, wie Studien belegen?
Das hat viele Gründe. Zum einen liegt das daran, dass Mütter das Gefühl haben, egal, wie sie es machen, sie machen es falsch. Eine Mutter, die engagiert im Beruf ist, wird als Rabenmutter verunglimpft und eine Mutter, die sich engagiert zu Hause um die Kinder kümmert, wird als Heimchen am Herd denunziert. Der zweite Punkt ist, dass die Anforderungen unfassbar gestiegen sind.
Inwiefern?
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass von meiner Mutter irgendeine Mitarbeit in der Schule gefordert gewesen wäre, sei es Basteln, Backen oder einen Ausflug begleiten. Heute verlagert man ein Stück Verantwortung auf die Eltern. Parallel dazu erwartet die Gesellschaft sehr viel von den Eltern. Wenn sich früher ein Kind das Knie aufgeschlagen hat, wäre niemand auf die Idee gekommen, zu sagen „Da hat aber die Mutter nicht richtig aufgepasst.“ Heute sind Eltern auch in den Augen der Öffentlichkeit für alles verantwortlich, was ihren Kindern zustößt, wie sie sich entwickeln, was sie tun.
Woher kommt das?
Zum einen weiß man sehr viel mehr als früher. Es gibt zu jedem Thema irgendeine Studie. Und zu jeder Studie gibt es eine Gegen-Studie. Dieses große Wissen suggeriert, dass es einen richtigen Weg gibt und man sich nur genügend anstrengen muss, um ihn zu finden. Als man noch nicht so viel wusste, hat man manche Dinge eher hingenommen, nach dem Motto „Das ist jetzt halt so und ich kann es gerade nicht ändern“. Diese Art von Schicksalsergebenheit ist uns abhanden gekommen und wir glauben, dass wir alles beeinflussen können. Ich halte das für einen der größten Irrtümer der Jetzt-Zeit.
Warum sind Eltern so perfektionistisch?
Eltern sind heute im Schnitt 31 Jahre alt wenn sie ihr erstes Kind bekommen, sie waren davor in der Regel schon eine Weile berufstätig. Man neigt dazu, die Ansprüche, die man an sich im Beruf hat, auf die Elternschaft zu übertragen. Die Haltung „Ich will es so gut wie möglich machen“ kennt man ja aus dem Job. Beim Eltern-Sein ist aber mittelgut gut genug. Kinder brauchen keine perfekten Eltern. Sie lernen ja vom Vorbild und wenn sie von ihren Eltern mitbekommen, dass man auch Fehler machen und sich dafür entschuldigen kann, haben sie für ihr Leben mehr gelernt als wenn man versucht, ständig alles richtig zu machen. Das klappt sowieso nicht.
Also mehr Gelassenheit in der Erziehung?
Erziehung kann nicht alles, muss nicht alles und darf auch nicht alles. Ich glaube, es hat noch nie eine Generation von Eltern gegeben, denen es so wichtig war, alles richtig zu machen. Das zusammen mit der Erwartungshaltung der Gesellschaft ergibt die totale Überforderung. Grundsätzlich sagt einem bei der Erziehung das Bauchgefühl in Kombination mit einem gesunden Menschenverstand meistens das richtige. Abgesehen davon, gibt es so viele sich wiedersprechende Theorien rund um die Kindererziehung. Alles, was man schon mal für das Nonplusultra hielt, ist auch schon längst wieder überholt.
Früher stand unter dem Titel „Eltern“: „Für die schönsten Jahres des Lebens“. Heute steht darunter: „Für die aufregendsten Jahres des Lebens“. War das Eltern-Sein früher schöner als heute?
Elternschaft wurde jedenfalls nicht so problematisiert. Als „Eltern“ zum ersten Mal erschienen ist, befand sich die Gesellschaft in einer großen Umbruchphase. Es herrschte Aufbruchsstimmung und die Eltern, die unsere Zeitschrift kauften, waren neugierig auf eine andere Form der Familie als sie sie vielleicht selbst erlebt haben. Und darauf haben sie sich gefreut. Heute würden die Leser den Slogan als unaufrichtig und schönfärberisch empfinden. Das Wort „aufregend“ passt besser in unsere Zeit.

Was heute selbstverständlich ist, war in den Sechzigern, Siebzigern undenkbar, Stichwort Kinderwunschbehandlung oder Rooming-In nach der Geburt. Welche Themen stehen heute auf Ihrer Agenda?

Neben dem großen Thema „Eltern unter Druck“, wollen wir auch massiv das Thema Diversität angehen. Wir wollen Familien in Deutschland so abbilden wie sie sind. Eltern mit Migrationshintergrund müssen präsenter werden.

Sie haben für die Aufarbeitung Ihrer Themen oft die Kinder von Mitarbeitern ins Heft gebracht. Ist das vor dem Hintergrund der Anonymitätswahrung in Zeiten des Internets nicht eine etwas heikle Maßnahme?

Es gibt einen gewissen Grad, den man nicht überschreiten sollte. Grundsätzlich ist es im gedruckten Heft etwas anderes als wenn man es online stellt. In der Regel sind es unverfängliche Kontexte und es hilft uns natürlich sehr, wenn Leser verstehen, dass die Menschen, die für uns arbeiten, dieselben Probleme haben wie sie selbst. Die Geschichten, in denen sich Autoren mit ihren eigenen Kindern beschäftigen, werden am besten gelesen. Es werden auch keine Details über Kinder verraten, für die sie sich später schämen müssten. Mein Sohn kann heute darüber schmunzeln, was ich früher in meinen Glossen über ihn geschrieben habe.