Historischer Moment: Am 7. Dezember 1970 fällt Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau auf die Knie. Foto: dpa

Vor fünfzig Jahren sank Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos auf die Knie. Eine Geste der Demut, die nicht nur beim Gastgeber Polen für Verwirrung sorgte.

Warschau/Berlin - Zehn Sekunden, 20 Sekunden, eine halbe Minute. Vielen der fröstelnden Zuschauer, die an diesem kalten und grauen Montag vor 50 Jahren in Warschau dabei sind, stockt der Atem. Sie werden Zeugen eines historischen Ereignisses. Eben noch hat Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos einen Kranz niedergelegt und die schwarz-rot-goldene Schleife gerichtet. Dann verschwindet sein Kopf plötzlich zwischen den Menschenreihen, ist von hinten nicht mehr zu sehen.

Der Kanzler sinkt auf die Knie, ganz unvermittelt. Er verharrt schweigend auf dem nassen Boden. Sein Gesicht ist bewegungslos, der Ausdruck starr, der Blick weit in die Ferne gerichtet, als er sich mit einem Ruck wieder erhebt, so berichten Umstehende später. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, schrieb Willy Brandt in seinen 1989 erschienenen Memoiren.

Ostverträge sollen Beziehungen entspannen

Als Kniefall von Warschau ist die große Geste vom 7. Dezember 1970 in die Geschichte eingegangen.

Als erster deutscher Kanzler seit dem Zweiten Weltkrieg ist Willy Brandt an diesem Tag in die polnische Hauptstadt gekommen. Bei seinem Besuch wird er den Warschauer Vertrag unterschreiben, der die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze enthält. Das Papier ist Teil der sogenannten Ostverträge, mit denen die sozialliberale Bundesregierung ihr Verhältnis zu den kommunistischen Nachbarn entspannen will. Vor der Unterzeichnung besuchen westdeutsche und polnische Regierungsvertreter noch das Mahnmal im Herzen der Stadt und gedenken der Opfer des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto 1943.

Das Bild des knienden Brandt geht um den Globus. Ein deutscher Kanzler bittet um Verzeihung für die Verbrechen der NS-Zeit. Brandt führt der Welt ein neues, ein friedliches Deutschland vor Augen. „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien“, schreibt der „Spiegel“ daraufhin.

In der Tat erhält die große Geste allein dadurch großes Gewicht, dass sie von Brandt kommt. Er ist kein NS-Täter. 1933 musste der junge Sozialdemokrat Herbert Ernst Karl Frahm, so der Geburtsname von Willy Brandt, selbst vor den Nazis nach Norwegen und später weiter nach Schweden fliehen.

Polnische Medien nehmen kaum Notiz

Das Foto ist in der Welt – doch in den polnischen Medien wird es weitestgehend verschwiegen. Und auch Polens Parteiführung schweigt. „Am Tage des Geschehens sprach mich keiner meiner Gastgeber hierauf an“, erinnerte sich Willy Brandt. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie stand damals im Mittelpunkt, alles andere sei Nebensache gewesen, erklärte später auch Mieczyslaw Tomala, der Dolmetscher, der 1970 Brandts Gespräche mit Parteichef Wladyslaw Gomulka und Ministerpräsident Jozef Cyrankiewicz übersetzt hatte.

Der Vertrag mit der Bundesrepublik galt in Polen als großer Erfolg. Die kommunistischen Propagandisten wollten aber auf keinen Fall auf das bequeme Bild des „bösen Deutschen“ verzichten. Mit seiner unerwarteten Geste habe Brandt den kommunistischen Parteiapparat „in Angst und Schrecken versetzt“, so der Journalist Karol Szyndzielorz, der vor 50 Jahren als junger Reporter Augenzeuge des Kniefalls wurde. „Brandt flog mit einem enttäuschten Gefühl aus Polen zurück, da seine deutlichen Angebote zu tieferer Versöhnung unbeantwortet blieben“, sagt Jan Lipinsky vom Marburger Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung.

Geteilte Ansichten in Westdeutschland

Auch die Gesellschaft in Westdeutschland ist ob der Demutsgeste Brandts im Jahr 1970 gespalten. Der Kanzler sieht sich zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt – nicht zuletzt aus den Reihen der Union. Beschimpfungen wie „Vaterlandsverräter“ oder Schlimmeres werden ihm an den Kopf geworfen. Für einen Teil der Bevölkerung wird Brandt zur regelrechten Hassfigur. In einer Umfrage im Jahr 1970 antworten auf die Frage, ob Brandt habe knien dürfen nur 41 Prozent mit Ja, 48 Prozent mit Nein. „Es gab damals keine große Empfänglichkeit für eine Demutsgeste“, erklärt die Politologin Paula Diehl von der Universität Kiel. In der westdeutschen Gesellschaft habe zu dieser Zeit die Verdrängung der NS-Gräuel und des verlorenen Kriegs im Vordergrund gestanden, die Aufarbeitung der Nazi-Zeit stand noch ganz am Anfang.

Gleichwohl sei Polen nicht der einzige Adressat der großen Geste gewesen, erklärt Politologin Diehl. Die Botschaft Brandts habe sich auch nach innen gerichtet. Er habe die historische Verantwortung Deutschlands übernommen und damit ein deutliches Signal an die Deutschen gesendet, erläutert sie: „Er kniete stellvertretend für das Volk und sorgte dafür, dass die Menschen ihren eigenen Standpunkt überdenken mussten.“

War es eine spontane Geste?

Ungeklärt ist bis heute, ob Brandt spontan auf die Knie ging oder ob er seine Demutsgeste zuvor geplant hatte. Schließlich hatte der Kanzler seinen Kniefall, der zum Symbol der neuen Ostpolitik werden sollte, vorher niemandem angekündigt. „Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob sie etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht“, versichert Brandt später in seinen Memoiren. Doch die Spekulationen dauern an.

Der Wissenschaftler Lipinsky glaubt ihm das: Brandts Kniefall sei „eine Eingebung des Augenblicks gewesen, mit der er die historische Schuld des deutschen Volkes eingestand, obwohl er selbst frei von persönlicher Schuld war, und zugleich um Vergebung bat“. Und auch Brandts Vertrauter, sein Parteifreund Egon Bahr, der als Stratege der Neuen Ostpolitik die Idee vom Wandel durch Annäherung hatte, beteuerte ein ums andere Mal: „Unsinn, es war nicht geplant.“ Ihm hatte Brandt am Abend jenes 7. Dezembers, der in die Geschichte eingehen sollte, gesagt: „Ich hatte das Empfinden, ein Neigen des Kopfes genügt nicht.“