Vom 1. Juli an muss die Stadt rechtlich für mögliche Defizite durch das Billig-Abo geradestehen. Die VVS-Chefin berichtet im Rathaus über wachsende Nutzerzahlen – und ein hartnäckiges Problem.
Eine Fahrt im Nebel – von nun an auf eigenes Risiko. Das ist die Botschaft, die der zuständige Ausschuss im Stuttgarter Gemeinderat nach einer Präsentation von VVS-Chefin Cornelia Christian zum aktuellen Stand beim Deutschlandticket mitnehmen musste.
Stadt in der Pflicht
Vom 1. Juli an, so verkündete Martin Körner, Leiter des städtischen Grundsatzreferats Klimaschutz, Mobilität und Wohnen, gilt das Ticket in Stuttgart nur weiter, weil OB Frank Nopper (CDU) eine im Bürokratendeutsch „Anwendungsbefehl“ genannte Anordnung ausgefertigt hat. „Das heißt, dass die Landeshauptstadt die Risiken übernimmt und für die Einnahmeausfälle gerade stehen muss“, sagte Körner: „Da dies ein erheblicher Betrag ist, ist es mir wichtig, den Gemeinderat über die aktuelle Situation in Kenntnis zu setzen.“
Die gute Nachricht: In der Region hat das Ticket binnen eines Jahres einen kräftigen Schub bei der Nachfrage ausgelöst. Um fast Dreiviertel ist die Zahl der Abos im Vergleich zum April 2023 gestiegen, dem letzten Monat vor der Einführung, berichtete die VVS-Chefin. Aktuell fahren mehr als eine halbe Million Menschen mit dem Deutschlandticket und dem deutschlandweit geltenden, baden-württembergischen Jugendticket.
Die Zahl der Menschen, die vorher noch keinen Fuß in Bus und Bahn gesetzt hatten, ist in Stuttgart mit zwei Prozent allerdings sehr gering – das gute Angebot hat schon bisher viele Gelegenheitsnutzer mit sich gebracht. Knapp die Hälfte aller Deutschlandticket-Kunden im VVS lebt in der Landeshauptstadt. Allerdings ist das Wachstum abgeflacht: Zwischen Dezember 2023 und Mai gab es bei den Jedermann-Abos nur noch ein Plus von zwei Prozent. Jobtickets laufen etwas besser.
Bund und Länder streiten weiter ums Geld
Die schlechte Nachricht: Auch mehr als ein Jahr nach der Einführung ist eine Einigung von Bund und Land über den dauerhaften Ausgleich der durch die niedrigeren Fahrpreise aufgerissenen Finanzlücke nicht in Sicht. Allein bei den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) summiert sich dieser Ausgleichsbetrag aktuell für das Jahr auf 90 bis 95 Millionen Euro, wie Marketingvorstand Markus Raupp berichtete. Im Gemeinderat führte das nun schon seit Monaten in die Länge gezogen Pokerspiel um die Kosten des Deutschlandtickets über die Parteigrenzen hinweg zu Verdruss.
Stadtrat spricht von Skandal
Nach mehr als einem Jahr ringe man immer noch darum, wer die Party bezahlen solle, sagte Björn Peterhoff von den Grünen: „Aber dass die Kommune ins Risiko geht, ist richtig.“ CDU-Stadtrat Jürgen Sauer monierte, dass Bund und Länder seit Monaten nach dem gleichen Muster agierten: „Wir wissen nicht, wie es am 1. Juli weitergeht – und das ist ein Skandal.“ Eine reiche Stadt wie Stuttgart könne ja noch Zusagen machen, für eventuell auflaufende Defizite am Ende aufzukommen. Für andere Kommunen sei das nicht möglich: „So kann das nicht weitergehen. Bund und Länder müssen endlich ihren Job machen.“
Auch Lucia Schanbacher (SPD) sprach von politischer Verantwortungslosigkeit: „Es kann doch nicht sein, dass die Kommunen regelmäßig die Pistole auf die Brust gesetzt bekommen. „Der Kritik an dieser ganzen Finanzschacherei schließe ich mich an“, sagte FDP-Stadtrat Armin Serwani, der dabei die CDU im Land ins Visier nahm, die bei dem Thema zu wenig aktiv sei. Es könne ja auch das Land eine rechtliche Garantie aussprechen, wie sie Stuttgart ausgestellt habe.
Baden-Württemberg hat Zusagen gegeben
Allerdings betonte VVS-Chefin Christian, dass Baden-Württemberg immerhin mehrfach schriftliche Zusagen gegeben habe, dass man am Ende für die Finanzierung geradestehen werde: „In Nordrhein-Westfalen oder im Land Berlin haben sie so etwas nicht.“
Der Linken-Stadtrat Luigi Pantisano konnte sich einen Seitenhieb auf die breite Parteien-Koalition im Gemeinderat nicht verkneifen: „Ich frage mich, wer eigentlich in Bund und Land an der Regierung ist.“