Im März vor 40 Jahren formierte sich in Sindelfingen die kreisweite Friedensbewegung.
Sindelfingen - „Ohne das Nachzügler-Abitur in Chemie hätte es die Friedensbewegung in Sindelfingen so nicht gegeben“, stellt Michael Kuckenburg fest. Der ehemalige Lehrer am Goldberg-Gymnasium hatte im Februar 1981 gemeinsam mit seinem Kollegen Ulrich von der Mülbe die Aufsicht. Zwei Kollegen waren vorgeschrieben, obwohl es nur einen Abiturienten zu betreuen gab. Die Stunden, in denen der Schüler sein Chemie-Abitur schrieb, nutzen die beiden Lehrer, um die Gründung einer Friedensinitiative zu planen. „Es gab bereits verschiedene Gruppierungen im Kreis wie Pax Christi oder Ohne Rüstung leben, die Flugblätter verteilten“, erzählt Kuckenburg. Doch eine gemeinsame Strategie fehlte.
So beriefen die beiden Lehrer gemeinsam mit Klaus Philippscheck, einem Kollegen von der Klostergarten-Realschule, und Bernd Riexinger aus Weil der Stadt, damals Chef des politisch links angesiedelten Bunds der Pfadfinder im Kreis Böblingen eine Versammlung für den 5. März in Sindelfingen ein. „Per Brief und Telefon, den damals zur Verfügung stehenden Mitteln“, sagt Michael Kuckenburg.
Mit 20 Leuten habe man gerechnet, 83 kamen. Der kleine Saal am Sindelfinger Wasserturm platzte aus allen Nähten. Überall seien die Leute gesessen und gestanden, auf dem Boden, den Fensterbänken. Vereinbart wurde bei diesem Treffen, bis zum Sommer 2500 Unterschriften für den sogenannten Krefelder Appell zu sammeln, in dem die deutsche Bundesregierung aufgefordert wurde, ihre Zustimmung zur Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa zurückzunehmen.
Ein Wettrüsten zwischen den Nato-Staaten und denen des Ostblocks unter der Führung der Sowjetunion bestimmte die Weltpolitik. In ganz Europa formierten sich Friedensfreunde, die forderten, dass der Westen mit dem Abrüsten beginnen müsse. Demonstrationen und Friedensmärsche gab es landauf, landab.
In Sindelfingen glaubten die Akteure zunächst, die Initiative würde sich wieder auflösen, sobald das Ziel erreicht sei, genügend Unterschriften für den Krefelder Appell zu sammeln. Doch dann wurde daraus eine große Bewegung. „Es war eine hochpolitisierte Zeit. Politische Diskussionen gehörten zum Alltag“, erinnert sich Klaus Philippscheck. „Lehrer, junge Realschüler, Hausfrauen, Pfarrer der Kirchengemeinden, Studenten – es war eine sehr breite Bewegung und es wurde in einer Qualität diskutiert, die es heute nicht mehr gibt. Die Leute war sehr gut informiert.“ Sehr viele Frauen hätten sich engagiert, sagt Kuckenburg. „Auf einer Demo in Sindelfingen traten nur weibliche Redner auf.“
Als nächstes organisierten Kuckenburg und seine Mitstreiter eine Fahrt nach Bonn, damals deutsche Hauptstadt. Dort fand am 10. Oktober 1981 die bis dato größte Demonstration in der Geschichte der Bundesrepublik statt. 300 000 Menschen protestierten friedlich gegen die Aufrüstung. 1100 Menschen fuhren mit 25 gecharterten Bussen aus der Umgebung mit. „Das war auch für Sindelfingen die bisher größte Demo“, sagt Kuckenburg.
Das Sammelbecken der Friedensbewegung, in dem sich alles tummelte (von Pfarrern bis zu linken Parteien wie DKP und MLPD), war auch ein Forum langer Diskussionen. Alles wurde basisdemokratisch entschieden, auch die Inhalte der Flugblätter, die Klaus Philippscheck malte. Als schwierig und wenig effizient erwiesen sich jedoch die Debatten zwischen den diversen linken Gruppierungen. Und so beschlossen Kuckenburg und seine Mitstreiter 1983 eine neue Initiative zu gründen. „EntRüstung“ nannte sie sich. Diese organisierte die Teilnahme an der großen Menschenkette im Oktober 1983, die die von der US-Kaserne in Stuttgart bis zu der in Neu-Um ging. Dabei sei es auch zu Auseinandersetzungen mit Vertretern der Jungen Union gekommen, erinnert sich sich Kuckenburg. Aber die Frage der der Abrüstung spaltete alle Parteien. Schließlich stand der SPD-Kanzler Helmut Schmidt (bis 1982) hinter dem Beschluss zur Aufrüstung. Sein Parteikollege Erhard Eppler hingegen sprach sich auf der Demo 1981 in Bonn dagegen aus.
1987 wurde dann zwischen den USA und der Sowjetunion das INF-Abkommen geschlossen, bei dem sich die Großmächte verpflichteten, Atomwaffen im Bestand zu vernichten. Damit hatte die Friedensbewegung ihr wichtigstes Ziel erreicht. Und sie zerbröckelte daraufhin.
Der Geist der damaligen Zeit aber wirke bis heute nach, sagt Michael Kuckenburg. „Die Friedensbewegung war bestimmt von einem sehr freundlichen, friedlichen Umgangston. Umarmungen gehörten dazu.“ Er ist überzeugt: „Wenn sich heute die gegnerischen Fußballtrainer umarmen, dann sind das Auswirkungen dieser Zeit.“ Auch heutige politische Bewegungen wie „Fridays for future“ sieht er in der Nachfolge der Friedensbewegung. „Sie wirkt wie das Hintergrundrauschen des Urknalls bis heute nach.“
Viele Akteure der damaligen Zeit sind bis heute kulturell und politisch aktiv: nicht nur Kuckenburg, von der Mülbe und Philippscheck. Bernd Riexinger hat bekanntermaßen eine steile Karriere gemacht, sitzt heute im Bundestag und war bis letzte Woche Parteivorsitzender der Linken. Oder Richard Pitterle, der sich als 20-Jähriger bei der Friedensbewegung in Sindelfingen an harten Debatten beteiligte. Heute ist er Sindelfinger Stadtrat, saß acht Jahre als Abgeordneter der Linken für den Kreis Böblingen im Bundestag – und tritt dieses Jahr wieder an.