30 Jahre alt: Die Neue Staatsgalerie Stuttgart. Foto: Staatsgalerie

Einst ebenso attackiert wie gefeiert, zeigt sich James Stirlings Neue Staatsgalerie in Stuttgart 30 Jahre nach der Eröffnung frisch wie je. An diesem Sonntag sollen Zeitzeugengespräche und mehr an die Zeit erinnern, als Stirlings Bau den Triumph eines neuen Museumstyps markierte.

Einst ebenso attackiert wie gefeiert, zeigt sich James Stirlings Neue Staatsgalerie in Stuttgart 30 Jahre nach der Eröffnung frisch wie je. An diesem Sonntag sollen Zeitzeugengespräche und mehr an die Zeit erinnern, als Stirlings Bau den Triumph eines neuen Museumstyps markierte.

Stuttgart - Man muss einen Tempel durchqueren, um über Rampen auf jene Höhe zu gelangen, um gelassen auf die begrünte Überdeckelung der Stadtautobahn hinunterblicken zu können – so war es geplant. Auf dem Weg über die Terrassen mag man sich vorstellen, wie sich die mit bunten Röhren geschmückte Travertin-Fassade aus dem Grün erheben würde. Nun versteckt sich die einst 45 Millionen Euro teure Skulptur-Collage Neue Staatsgalerie hinter einer Doppel-Baumreihe, wird sie geschützt vor der Konrad-Adenauer-Straße, verschwindet der meistdiskutierte deutsche Museumsneubau der 1980er Jahre im Zerrspiegel des schon kränkelnden und doch noch stolzen Grüns.

Ein Spielfeld der Eitelkeiten lädt den Besucher – die diagonal ansteigenden Rampen bleiben als Anspielung auf eine Schiffsreling im Gedächtnis haften – vor dem eigentlichen Eingang zum Verweilen ein. Benachbarte Architektur spiegelt sich in einer elegant geschwungenen Glasfassade, hinter Ecken und in Einschnitten verschwindende Wege locken den Besucher, der doch der Kunstwerke wegen ein Museum betreten wollte, auf scheinbar verschlungene Pfade, verlocken dazu, die Architektur auf die Vielgestaltigkeit ihrer Figurationen hin zu befragen.

Ein Museum als Ereignis – für diese Qualität wurde die Neue Staatsgalerie, konzipiert auf den Reißbrettern des schottischen Architektur-Büros James Stirling, schon in der Planungsphase gleichermaßen lautstark attackiert und gefeiert. 30 Jahre nach der offiziellen Eröffnung des Hauses am 9. März 1984 sind die Aufregungen um die Frage, was Architektur darf, nahezu vergessen. Stirlings Neue Staatsgalerie ist so selbstverständlich Architektur und so wenig Museum, dass die Besucher sich geradezu automatisch in der Rolle von Liebenden wiederfinden, die sich auf der Suche nach einem Blick auf das ersehnte Gegenüber – hier: das Kunstwerk – bereitwillig dazu verführen lassen, auf Abwege innerhalb einer labyrinthischen Architekturlandschaft zu geraten.

Die provozierte langsame Annäherung, die Bewegung der Betrachter, fand in den ersten Jahren ihren kongenialen Widerhall im tänzelnden Gestus von Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“. Die Figurinen, hoch thronend, wollten mit Blicken umgarnt werden – und ihre lockere Versammlung umgab die Besucher, die auf dem Weg in die Sammlungsräume eine weitere Etage über der Stadtautobahn erreicht hatten, Raum und Zeit, um sich an die Präsenz von Kunst, die Forderung zur unmittelbaren Auseinandersetzung, gewöhnen zu können.

Das Spiel Stirlings, gespiegelt im durch Pop-Elemente heiteren Zitaten-Strauß, wich unter den Figurinen Schlemmers musealem Ernst. Kunst wurde im folgenden zelebriert – als Triumph individuellen Schöpfergeistes. Verantwortlich für die Feierlichkeit der Präsentation war der damalige Hausherr, Staatsgalerie-Direktor Peter Beye. Seit 1969 im Amt, konnte Beye das von seinem Vorgänger Erwin Petermann initiierte Neubau-Projekt von Mitte der siebziger Jahre an energisch vorantreiben. Damals noch im Rahmen einer Gesamtplanung für eine von Museen und Ministerien gesäumte „Kulturmeile“. Deren konsequente Bestätigung und Einbindung in das real existierende Kulturquartier lässt bis heute auf sich warten, bleibt eine kulturpolitische Baustelle von Land und Stadt.

Am 31. März 1994 schritt Peter Beye nach 25 Jahren ein letztes Mal als Direktor durch die Sammlungsräume. Der Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Hände hinter dem Rücken gekreuzt. Der Dank galt seinerzeit Beye als einem, der das Angebot James Stirlings angenommen hatte, der Kunst ein Haus zu bauen, das mit geradezu snobistischer Nonchalance daran erinnert, dass die Architektur einst die Mutter aller Künste war. Einzelgängern der Kunst stellte Beye Stirlings Demonstration der Vielfalt entgegen. Allen voran: Schlemmer, Picasso, Beuys und die Amerikaner Barnett Newman, Mark Rothko und Ad Reinhardt in der Sammlung – sowie Francis Bacon oder Alberto Giacometti in großen Einzelausstellungen.

Karin von Maur und Gudrun Inboden, im Staatsgalerie-Gefüge für die Pflege der Klassischen Moderne beziehungsweise der Gegenwartskunst verantwortlich, antworteten mit kongenialen Projekten. Unvergessen ist der Triumph, den die Staatsgalerie mit der von Karin von Maur verantworteten Dalí-Retrospektive feiern konnte – unvergessen ist auch die Erwiderung des von Gudrun Inboden eingeladenen französischen Künstlers Daniel Buren auf Stirlings Architektur. Deren signifikantestes Moment, die Verwandlung der mit grünem Kunststoff belegten Treppe vom Foyer in die Sammlungsräume durch das Anbringen weißer Streifen, war lange noch in Umrissen sichtbar – als sich langsam zurückziehendes Zeichen künstlerischer Arbeit vor Ort.

1977 aus einer Wettbewerbsentscheidung als Siegerentwurf hervorgegangen, widerlegt James Stirlings Museumsarchitektur auch 30 Jahre nach der damals unter dem Druck des Landtagswahlkampfs eilends durchgezogenen Einweihung sämtliche Befürchtungen prominenter Kritiker, als allzu leuchtender Stern bald zu verglühen. Und der Vorwurf Günter Behnischs, der 1977 im Wettbewerb unterlegen ist, Stirling liefere Architektur Mächtigen aus, mache Architektur manipulierbar, gaukle „Architektur“ vor – „bedauerlicherweise zur Freude des Staates und seiner Apparate und der darin tätigen Arrivierten“?

Die Kritik des Stuttgarter Architekten, der 1974 in einem ersten Wettbewerb zur Gesamtgestaltung der Talaue zwischen Neuem Schloß und Musikhochschule den ersten Preis erringen konnte, verpuffte in den 1980er Jahren. In einer Zeit, da die Blendfassade, die Abschottung gegenüber dem Stadtraum, fröhliche Urständ feierte, faszinierte Stirlings Aufforderung, Architektur zu benutzen. Eine Verpflichtung – für die Kunst, die Museumsleute, das Publikum.

Mit dem Neubau des 1993 gestorbenen James Stirling, mit der Stärkung des Sammlungsschwerpunkts Gegenwartskunst und Kooperationen mit führenden internationalen Museen konnte die Staatsgalerie Stuttgart ihr internationales Gewicht erheblich stärken. Von Erwin Petermann, Peter Beye und dem Ministerialbeamten Helmut Gerber auf den Weg gebracht, von Ex-Ministerpräsident Filbinger politisch verantwortet und von Ex-Ministerpräsident Späth als Zeugnis von High Tech und High Culture instrumentalisiert, erscheint die Neue Staatsgalerie heute mehr denn je als Beleg für die Notwendigkeit, von der Architektur nicht neutrale Hüllen für austauschbare Institutionen zu verlangen, sondern Forderungen an den Ort, an die Zeit und an die eigene Funktion zu stellen.