Die Erfurterin Katrin Linke (Mitte) und ihre beiden Fluchhelferinnen 1989 in Wien vor dem Hundertwasserhaus. Foto: Linke/Brensing

Die Erfurter Katrin Linke und Karsten Brensing sind im August 1989 aus der damaligen DDR geflohen. Möglich gemacht hatten dies zwei Frauen aus Stuttgart. Doch leider schlugen bislang alle Versuche fehl, mit den damaligen Helferinnen Kontakt aufzunehmen.

Stuttgart - Am heutigen 9. November jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal. Wer davor den Osten verlassen wollte, musste in aller Regel fliehen und ein hohes Risiko auf sich nehmen. In einem konkreten Fall der Republikflucht im August 1989 haben auch zwei Stuttgarterinnen eine wichtige Rolle gespielt. Die Erfurter Katrin Linke und Karsten Brensing, die der DDR den Rücken kehrten, wollen eben mit diesen damaligen Fluchthelferinnen Kontakt aufnehmen – aber alle Versuche sind bislang ins Leere gelaufen.

„Ich trage das Gefühl mit mir herum, dass ich ihnen in all dem Trubel und der Panik, die ich in den Wochen vor der geglückten Flucht hinter mir hatte, gar nicht richtig gedankt habe“, erzählt Katrin Linke von ihrem zuletzt stark aufgekommenen Bedürfnis, die beiden Frauen wiederzusehen. Ihr eigener 50. Geburtstag vor zwei Jahren sei für sie „ein Augenöffner“ gewesen, sich noch einmal intensiver mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sagt Linke. Nachdem sie jahrelang das traumatisierende Fluchtthema so gut es geht verdrängt hatte, setzte sich die Wissenschaftsjournalistin nun hin und schrieb „Eine Liebe ohne Grenzen – Unsere Flucht aus der DDR“.

Nehmt ihr Kathrin auf der Rückfahrt mit?

Das im März 2019 im Lübbe-Verlag erschienene Buch erzählt genau, wie Katrin Linke und ihr damaliger Freund nach mehreren missglückten Versuchen, über einen Ostblockstaat in den Westen zu gelangen, in Ungarn zufällig Bekanntschaft mit zwei 19-jährigen Urlauberinnen aus dem Raum Stuttgart machten. „Beim Trampen zum Balaton haben uns die beiden mit ihrem hellbraunen VW-Polo aufgegabelt“, so Linke. Man kam ins Reden, entwickelte schnell Vertrauen. Und irgendwann fragte Karsten die beiden Schwäbinnen geradeheraus: „Nehmt ihr Katrin auf der Rückfahrt mit?“ In dem kleinen Auto könne man nur eine Person verstecken, er selber wolle es auf einem anderen Weg versuchen, als Schwimmer durch die Donau bis hinter die Grenze nach Jugoslawien. Was dann auch gelang.

Tatsächlich willigten die beiden Urlauberinnen in das riskante Unternehmen ein und kamen eine Woche später zum verabredeten Platz in der ungarischen Stadt Balatonfüzfö. Katrin Linke verabschiedete sich von ihrem Freund („Wir wussten ja in diesem Moment nicht, ob wir uns jemals wiedersehen würden.“) und stieg ins Auto ein. Auf der Rückbank wurde die lebende Fracht mit Schaumstoff und Decken unsichtbar gemacht. Je näher man zur Grenze kam, desto aufgeregter wurde Linke. Was wird, wenn es wieder schiefgeht und sie erneut im Gefängnis landet? Und was würde mit den aufgeflogenen Schmugglerinnen?

Vor Glück geschrien

Dann der entscheidende Moment: Der blinde Passagier auf der Rückbank traute sich kaum noch zu atmen, während die beiden Urlauberinnen ganz cool blieben. Die Grenzpolizisten kontrollierten nur schnell die Pässe und ließen den Wagen dann ziehen. „Wir sind durch“, kam kurz danach auf österreichischem Boden die erlösende Botschaft Richtung Rückbank. „Wir haben dann die Fenster runtergekurbelt und unser Glück rausgeschrien“, wird Katrin Linke den Moment nie vergessen, als der Schritt in die Freiheit geglückt war.

Über Wien ging die Fahrt weiter nach Stuttgart. „Eine der beiden hat mich bei sich übernachten lassen, mir ein paar Schuhe geschenkt und mich am nächsten Tag im Stuttgarter Hauptbahnhof in den Zug nach Göttingen gesetzt“, sagt Katrin Linke. Man habe danach zwar noch einmal kurz schriftlichen Kontakt gehabt („Ich habe ihr Geld für das ausgelegte Zugticket geschickt.“), doch irgendwann war das Adressbüchlein weg. In den Zeiten vor Handy, E-Mail und Internet kein hilfreicher Umstand, um Verbindung zu halten. „Ich wusste nur noch ihre Vornamen“, so Linke.

Erst beim Zusammentragen der Materialien für das Buch wurde dem Ehepaar Linke/Brensing die Rolle der beiden Helferinnen noch einmal richtig bewusst. „Sie hätten ja auch höflich ablehnen können, statt sich in Gefahr zu begeben und die eigene Freiheit aufs Spiel zu setzen“, ist Katrin Linke klar, welch Mut damals dazugehörte. Zu gerne würden die beiden Ostdeutschen, die nach Studienjahren im Westen sowie in Amerika 2008 in ihre Heimat nach Erfurt zogen und heute Eltern von Zwillingen (sieben Jahre) sind, wissen, wie das Leben der beiden Frauen aus Stuttgart weitergegangen ist. „Ich habe mir das leichter vorgestellt“, sagt Katrin Linke über die vielen Versuche, die Helferinnen, die damals eine Ausbildung als Erzieherinnen abgeschlossen hatten, ausfindig zu machen. „Vielleicht erhalten wir ja über diesen Beitrag einen Hinweis.“ Wer einen solchen hat, kann sich gern an lokales@stzn.de wenden.

Initiative Picknick ohne Grenzen

Katrin Linke und Karsten Brensing, die im August 1989 aus der DDR in den Westen flohen, haben die Initiative „Picknick ohne Grenzen“ gestartet. Sie wollen am 3. Oktober 2020, dem 30. Jahrestag der Deutschen Einheit, ein Treffen von Geflüchteten und Fluchthelfern organisieren. „Wir wollen bei einem großen Picknick die Freiheit feiern“, sagt Karsten Brensing. Informationen gibt es auf der Internetseite www.picknick-ohne-grenzen.de oder über die E-Mailadresse picknickohnegrenzen@gmail.com.