3000 Badewannenladungen pro Sekunde fallen bei Schaffhausen die Felsen hinunter. Foto: Module+/privat

Eine Kunstinstallation soll Europas größten Wasserfall zu einem ganz neuen Erlebnis machen. Bei der 360-Grad-Schau taucht der Betrachter selbst in die Gischt, ohne nass zu werden.

Schaffhausen - So still ist es selten um den Rheinfall bei Schaffhausen gewesen. Natürlich, er selbst gab all die Wochen keine Ruhe. Unablässig donnerten die Massen herab und warfen sich auf andere donnernde Massen, wie es der Dichter Eduard Mörike einst beschrieb. Es gurgelte und grollte. Doch kein Mensch nahm Notiz davon, wie jede Sekunde 3000 Badewannenladungen die 23 Meter hohen Felsen hinunterstürzten. Während des Corona-Lockdowns hatte die Schweiz den Zugang zu Europas größtem Wasserfall gesperrt. Jetzt ist er wieder frei, und ein außergewöhnliches Kunstprojekt könnte einen Besuch noch spannender machen.

In einer ehemaligen Industriehalle wenige Schritte vom Wasserfall entfernt, in der früher Bahnwaggons gebaut wurden, hat der Performance-Künstler Beat Toniolo einen siebeneckigen Raum eingerichtet. Wer ihn betritt, wird förmlich in das Rheinfall-Erlebnis hineingezogen. Es ist wie in einem der 360-Grad-Rundbilder von Yadegar Asisi, wie sie in Leipzig oder Pforzheim bewundert werden können, allerdings mit drei entscheidenden Unterschieden: Es handelt sich um Originalaufnahmen, die an die Wände geschmissen werden, die Bilder sind bewegt, und auch der Boden und die Decke werden bespielt. 28 Beamer hat Toniolo dafür im Einsatz, dazu 90 spezielle Lautsprecherboxen. So soll der Betrachter in den Rheinfall eintauchen können, ohne dabei nass zu werden und sein Leben zu riskieren.

Wie in einem Videospiel

Es handelt sich um immersive Kunst. Bei dieser jungen Kunstrichtung geht es darum, das Publikum komplett in ein Live-Erlebnis einzubinden. Eigentlich ist Immersion, das Eintauchen in eine künstliche Umgebung, vor allem aus den virtuellen Realitäten (VR) von Videospielen bekannt. Doch auch die Kunst macht sich moderne Computertechnik zunutze.

Toniolo, der heute in Zeitz bei Leipzig lebt, kennt den Rheinfall gut. In jungen Jahren verbrachte der heute 58-Jährige auch ein paar Jahre in Stuttgart, als er sich zum Sporttherapeuten ausbilden ließ, aufgewachsen ist der Schweizer aber in Schaffhausen. Die Kraft und die Wucht, dann aber auch die Stille und die Harmonie – der Rheinfall sei ein Faszinosum, sagt Toniolo. Seine Kunstinszenierung namens Rhyality – ein Wortspiel mit dem Schweizerdeutschen Namen für den Rhein – versteht er als eine Hommage an den Wasserfall.

Zwei Millionen Fotos und etwas Schnee

Ein Jahr lang hat die heiße Phase der Projektarbeit gedauert. Dabei kamen eine Drohne und eine Unterwasserkamera zum Einsatz. Mit vier Spezialkameras wurde das Rheinfallbecken aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. Jede Minute wurde dabei ein Bild geschossen. Insgesamt zwei Millionen Bilder kamen auf diese Weise zusammen, die den Rheinfall nun auch entlang der vier Jahreszeiten beschreiben. „Wir hatten Glück. Wir hatten viel Wasser und im Winter sogar etwas Schnee“, sagt Toniolo. „Die Natur hat sich perfekt inszeniert.“

Den Film, der in einer Kurzversion von 20 und einer längeren von 40 Minuten vorliegt, ergänzen Mikro- und Makroaufnahmen der umgebenden Natur von Pflanzen und Insekten. Daneben wurden 3-D-Animationen integriert. Insgesamt 120 Künstler und Fachleute wirkten mit, steuern Texte und Musik bei, darunter der Sänger des Elektropop-Duos Yello, Dieter Meier. „Man entdeckt immer wieder Neues“, sagt der Macher selbst. Die sonst übliche Pressevorführung fiel aus. Bis zur letzten Minute wurde noch an Übergängen gefeilt. Vor der Premiere am Freitag waren lediglich Trailer zu sehen. Sie waren aber durchaus faszinierend.

Ein Millionenprojekt

340 000 Euro habe die Fertigung des Films gekostet, sagt Toniolo, die Einrichtung der denkmalgeschützten Fabrikhalle verschlang 2,5 Millionen Euro. Stiftungen und private Geldgeber hätten ihre Zusagen aber eingehalten – trotz Corona. Ihr Rheinfall ist den Schweizern etwas wert.