Lange versuchten die Kinos, in der Pandemie optimistisch zu bleiben. Aber die Reserven sind allmählich erschöpft. Foto: dpa/Stuttgart

Noch dürfen Kinos in der vierten Welle unter 2G+-Regeln weitermachen. Aber bald könnten die Filme fehlen – und schon jetzt bleibt auch in Stuttgart teils das Publikum weg.

Stuttgart - Er habe, sagt der Stuttgarter Kinomacher Peter Erasmus, in seinen viereinhalb Jahrzehnten in der Branche schon viele Auf und Abs erlebt. Doch das sei auch für ihn neu: „Dass die Besucherzahlen von einem Tag auf den anderen so in den Keller gerauscht sind wie jetzt mit der 2G+-Regelung. Das hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können.“ Mit seinem Sohn Simon zusammen betreibt Peter Erasmus das Atelier am Bollwerk und das Delphi, zwei Kinos mit zusammen fünf Leinwänden, die man neudeutsch als Arthouses tituliert. Also als Filmtheater mit Qualitätsanspruch, deren Publikum, so die Theorie, viel bewusster auswählt als andere und viel eher bereit ist, mal eine Hürde zu überwinden, um einen bestimmten Film zu sehen.

Die Realität sieht für Erasmus und viele, wenn auch noch nicht alle seiner Kollegen, anders aus. Ein Unwohlsein im öffentlichen Raum hält die Menschen zuhause, wohl auch die Sorge, man könne sich doch irgendwie anstecken. Vor allem aber ist einem Teil des Publikums der Aufwand für die Tests zu groß – „nur“ für einen Kinobesuch. Dass große Theater noch gute Besucherzahlen haben, etliche Kinos aber leer stehen, mag damit zu tun haben, dass man einen Theaterabend meist lange im Voraus reserviert und dann gleich auch den Test einplant, sich zum Kinobesuch aber traditionell eher kurzfristig entschließt.

Alle Reserven sind aufgebraucht

Für Margarete Söhner, Teil des Führungsteams der Stuttgarter Innenstadtkinos (Cinema, EM, Gloria), stellt sich die Lage anders dar. „Als wir nach dem Lockdown wieder öffnen durften, war es ganz wunderbar zu erleben, wie das Publikum sofort zurückkam. Die Leute wollten wieder Kino erleben, und wir haben mit 2G+ auch nicht den totalen Absturz erlebt. So, wie es jetzt läuft, könnten wir die Kinos durchaus geöffnet halten.“ Dass sie damit eher die Ausnahme als die Regel benennt, ist Söhner klar. Die stärker kommerziell ausgerichteten Filmtheater mit rund 75 Prozent der deutschen Kinosäle sind im Verband HDF Kino organisiert, und dessen Vorstandsvorsitzende Christine Berg schlägt gerade Alarm. „Nach fast zwei Jahren Pandemie sind alle Reserven aufgebraucht“, mahnt Berg. Mit einer ausgeweiteten Überbrückungshilfe müsse die Politik umgehend alle Kinostandorte unterstützen. „Ansonsten kommt im nächsten Jahr eine große Insolvenzwelle auf uns zu.“

In anderen Bundesländern hat es für den Besucherrückgang nicht einmal die in Bayern und Baden-Württemberg geltende 2G+-Regel gebraucht. Dort hat schon die 2G-Regel gereicht. Dass die Stuttgarter Innenstadtkinos nicht ganz so hart getroffen sind, führt Söhner unter anderem auf die günstige Lage zurück. „Wir liegen im Zentrum und haben eine Apotheke direkt gegenüber, da kann man spontan einen Test machen lassen.“ Vor allem aber profitierten ihre Kinos von der Treue eines über Jahre und Jahrzehnte erarbeiteten Stammpublikums. Das wurde von einem Schock getroffen, als in der Pandemie das Metropol geschlossen wurde, der kargen wirtschaftlichen Aussichten wegen. „Vielleicht ist unserem Publikum auch bewusst geworden, dass es Kinos nur weiterhin gibt, wenn man auch hingeht.“

„Caveman“ fällt erst mal aus

Mit Peter Erasmus allerdings teilt Margarete Söhner eine große Sorge: dass die Kinos zwar unter schwierigen Bedingungen offen bleiben dürfen, ihnen aber die attraktiven Filme ausgehen werden. Für die Kinos ist es eine Nothilfe, wenn ein Film, der sonst die Säle gefüllt hätte, wenigstens genug einbringt, um Strom, Heizung und Personal zu bezahlen. Für die Produzenten und Verleiher aber ist so eine mickrige Auswertung unter 2G- und 2G+-Regeln ein sattes Minusgeschäft. Sie überlegen, ob sie den Start potenzieller Kassenknüller wieder – wie in vorigen Phasen der Pandemie – weiträumig verschieben sollten.

Erste Absagen gibt es bereits. Constantin Film etwa hat nicht nur den Start der Theaterverfilmung „Caveman“ (ursprünglich 23. Dezember) abgeblasen, sondern pessimistisch gleich noch Hoffnungsträger aus dem Januar und Februar, nämlich Sönke Wortmanns „Der Nachname“ und Anika Deckers „Liebesdings“. Der Verleih Studiocanal hat das Naturabenteuer „Der Wolf und der Löwe“ verschoben, der Filmkunstspezialist Neue Visionen Pascal Elbés „Schmetterlinge im Ohr“ und Jacques Audiards „Wo in Paris die Sonne aufgeht“.

Auch Hollywood wird nervös

Noch setzen die Kinos Hoffnungen auf einige große Titel aus den USA, auf Steven Spielbergs Neuverfilmung von „West Side Story“ (9.12.) etwa, das Superheldenabenteuer „Spider-Man: No Way Home“ und die Franchise-Wiederbelebung „Matrix Resurrections“ (23.12.). Aber die Betreiber bangen täglich, ob Absagen kommen. Denn auch Hollywood hat bereits nervös auf die neuerliche Pandemieverschärfung reagiert. „Sing – Die Show deines Lebens“, die Fortsetzung eines Animationshits, soll nicht am 16. Dezember starten, sondern erst am 20. Januar 2022. Wobei auch der neue Termin nicht in Stein gemeißelt ist.

„Wenn uns die großen Filme noch wegbrechen sollten“, sagt Margarete Söhner, „dann weiß ich allerdings auch nicht, wie es weitergehen soll.“ Und Peter Erasmus winkt ab, weil einige der möglichen Hollywood-Blockbuster für sein Publikum sowieso nicht taugen. Wie viele seiner Kollegen sieht er eine ungute Variante am Horizont. Dass es keine großen Hilfsprogramme geben könnte, weil die Kinos offiziell nicht in den Lockdown geschickt werden, sich das Öffnen aber nicht mehr lohnt.