Peter Brinkmann (im roten Kreis) war als Korrespondent in Ostberlin akkreditiert: 1989 stellte er die entscheidende Frage, die zum Fall der Mauer führte – und die ihn bis heute beschäftigt. Foto: Brinkmann

Mit interaktiver Zeitleiste - Als die SED-Führung am Abend des 9. November 1989 eine Pressekonferenz einberief, ahnte niemand, dass nur vier Stunden später Menschenmassen die Grenzübergänge in Richtung Westberlin überrollen würden. Im Zentrum der Ereignisse: Peter Brinkmann.

Berlin - So ein Tag. So wunderschön. Man möchte schwören, er sei viel länger gewesen als andere. So viel passt in ihn hinein. So viel Freude. Leben. Staunen. So viel Glück und Glas. Der 9. November 1989: der Tag, an dem die Mauer fiel. Jeder weiß noch, was er an diesem Donnerstag gemacht hat, wo er sich befand, was ihn beschäftigte, als Jo Brauner in der „Tagesschau“ über die neue Reisefreiheit für DDR-Bürger berichtete, als die Bilder von den Trabant-Kolonnen später in der Nacht über die Bildschirme flimmerten, als überall in Deutschland gelacht, gejubelt und geweint wurde.

Peter Brinkmann weiß es auch. Und er redet gern darüber. Und er schreibt darüber. Er hätte auch anderes zu berichten. Sein Reporterleben ist prallvoll mit Eindrücklichkeiten. Saddam Hussein hat ihm in Bagdad die Hand geschüttelt, als er zu Golfkriegszeiten von einer Bombenexplosion schwer verletzt in einem Krankenhaus der irakischen Hauptstadt lag. Fidel Castro ist er begegnet, und die Spitzen der deutschen Politik begleitet er jahrzehntelang. Aber das ist für Brinkmann alles nicht zu vergleichen mit diesem 9. November.

Brinkmann ist zufällig an einen Schalter gekommen, der alles auslöste

Er hat erlebt, dass Geschichte sich wie eine Feder zusammenziehen kann – zu einem historischen Punkt, zu einem „Jetzt!“, in dem sich alles entscheidet. Und dass diese gestaute historische Energie freigesetzt werden kann, um dann zu explodieren. Er hat sie freigesetzt. Wenn man so will. Nicht wissentlich, nicht willentlich. Eher ist es so, dass er im Tumult der Zeitläufte zufällig an einen Schalter gekommen ist, der dann alles auslöste – die alles mitreißende Freudenlawine entfesselte. Seine lange Geschichte beginnt in Hamburg. Brinkmann ist damals 54 Jahre alt und Ressortchef Wirtschaft bei der „Bild“-Zeitung in Hamburg. Vor allem aber ist er „Reisekorrespondent“ für die DDR – dem Springer-Blatt wurde vom SED-Staat kein festes Büro in Ostberlin zugestanden. Reporter leben von Kontakten. Am 8.November bekommt Brinkmann einen Tipp aus der Westberliner Senatskanzlei. Da tue sich was. Was? Das sei unklar, aber irgendwie hänge alles mit den neuen Reisegesetzen zusammen.

Das Internationale Pressezentrum der DDR-Regierung liegt in der Mohrenstraße. Der Konferenzraum ist noch leer, als Brinkmann den Saal im ersten Stock erreicht. Erst für den Abend, 18 Uhr, ist die nächste Pressekonferenz anberaumt. Eine andere hatte er knapp verpasst. Johannes Rau, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hatte sich nach politischen Gesprächen an die Journalisten gewandt. Im Schlepptau Wolfgang Clement – Raus Staatssekretär, der noch ein Jahr zuvor als Chefredakteur des „Hamburger Abendblatts“ Brinkmanns Vorgesetzter war. Er läuft ihm über den Weg. Die beiden Politiker waren völlig ahnungslos, wussten nichts von kommenden Sensationen. Brinkmann nutzte die Gelegenheit, sich den besten Platz für die Abendkonferenz zu sichern. Ganz vorne rechts in der ersten linken Reihe, genau vor den Mikrofonen, hinter denen dann später Günter Schabowski, der DDR-Regierungssprecher, sitzen wird. Brinkmann hängt seine Jacke anspruchmarkierend über den Sitz.

Über Monate hat sich eine Spannung aufgebaut, die auf Entladung dringt

Dann macht er erst einmal das, was einen guten Teil des Reporterlebens ausmacht: Zeit totschlagen. Kleiner Gang durchs Ostberliner Zentrum. Ist es Einbildung? Diese Stimmung ist buchstäblich zu greifen, zu riechen, zu fühlen: Da braut sich was zusammen. Es gärt, es brodelt. Über Monate hat sich eine Spannung aufgebaut, die knisternd auf Entladung dringt: Den Sommer über hatten Tausende DDR-Bürger versucht, ihrem Land und seiner kommunistischen Diktatur Ade zu sagen. Sie hatten sich von Ungarn aus nach Österreich durchgeschlagen, über die grüne Grenze, die schon Stellen ohne Stacheldraht aufwies. Sie hatten zu Hunderten in der westdeutschen Botschaft in Prag kampiert und damit ihre Ausreise durchgesetzt; sie demonstrierten zu Zehntausenden in Leipzig und Ostberlin, mit der Forderung nach Reisefreiheit auf vielen Transparenten.

Die DDR-Oberen hatten versucht, ein wenig Druck aus dem Kessel zu nehmen, mit dem Ansatz zu einem neuen Reisegesetz, das aber Züge eines bürokratischen Monsters trug. Und jetzt wollten sie es ein zweites Mal versuchen, mit neuen Reisevorschriften, die etwas lockerer formuliert waren – aber keineswegs so locker, wie das die Welt in dieser Nacht zu verstehen glaubte.

Kurz vor 18 Uhr betritt Günter Schabowski, Politbüromitglied und nun Sekretär für Informationswesen im mächtigen Zentralkomitee, dann den Konferenzsaal in der Mohrenstraße. In der Tasche einen Zettel, den ihm DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz noch kurz vorher in die Hand gedrückt hatte. Gelesen hatte Schabowski den Text nicht mehr.

Als Peter Brinkmann in den Saal kommt, herrscht der übliche wuselige Betrieb. Der Raum ist überfüllt. Aber Brinkmann hatte ja „reserviert“. Aber Schabowski hat scheinbar nichts Zündendes zu verkünden. Stattdessen türmen sich Phrasenberge, und undurchdringliche Wortzäune werden errichtet, wie sie so kunstvoll nur von einem gelernten Mitglied des Politbüros gezimmert werden können. Die Spannung weicht der Routine. Schabowskis Bürokraten-Singsang lässt die Spannung verdämmern.

Und dann geht’s los. Ein italienischer Journalist, Ricardo Ehrmann, kommt zu Wort. Eine Stunde dauert Schabowskis Gefloskel nun schon. Nun fragt Ehrmann, der zu spät in der Mohrenstraße eingetroffen war, ob der vor wenigen Tagen vorgestellte Reisegesetz-Entwurf nicht ein Fehler gewesen sei. Schabowski ist irritiert, weicht aus – und erinnert sich. Da war doch was. Der Krenz-Zettel. Er stammelt, stochert, sucht. Wo ist denn nur das Ding? Minuten vergehen. Dann hat er endlich etwas zu sagen. „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Da bricht der Sturm los. Rufe, Fragen, Lärm.

Ab sofort?

Aber Brinkmann hat ja nicht ohne Grund sein Quartier direkt vor dem Podium bezogen. Seine Stimme übertönt alle. „Ab sofort?!“ Schabowski stutzt. Überrollt von der ganzen Sache. Er ist nicht vorbereitet. Brinkmann lässt nicht locker: „Wann? Sofort? Wann?“ Schabowski ist unsicher, hält das Blatt hoch. Dann, über die Lesebrille hinweg, die Worte, die alles verändern: „Das tritt nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort, unverzüglich.“

Das ist es. Die ganze Geschichte. Die Frage „Ab sofort?!“ – das war der Schalter, an den Brinkmann gekommen war. Dann ist der Pfeil vom Bogen und schnellt in die Zukunft. Es ist schon nach sieben Uhr abends, aber der Tag beginnt jetzt. Erst jetzt. Der Andrang an der Grenze, die hochgehenden Schlagbäume, die Tränen und Trabis, der schwarz-rot-goldene „Wahnsinn!“, die Mauerspechte, die Umarmungen und Feuerwerke, all der Tumult und Aufbruch und Zukunft überall. Natürlich ist Brinkmann mittendrin, fährt jeden Berliner Grenzübergang ab. Er ist Reporter, er kann nicht anders.

Das Westgeld, das er in der Tasche hat, verschenkt er an die Trabi-Piloten an den Übergängen. Irgendwann in dieser Nacht geht er ans Brandenburger Tor und heult vor Freude, weil er weiß, was jetzt beginnt – „ab sofort“. Ist das 25 Jahre her? Das alles ist präsent. Immer in Brinkmanns Bewusstsein. So ein Tag. So wunderschön. Der vergeht nie.