Fritz Walter (li.) streckt sich gegen seinen Dresdner Gegenspieler – für sieben DDR-Flüchtlinge ist das Uefa-Cup-Spiel an diesem Tag nur Nebensache Foto: Pressefoto Baumann

StN-Serie – Er hat niemandem etwas gesagt. Nicht seinen Eltern, nicht seiner Schwester, nicht seinen Freunden. Doch als der 20-jährige Dirk Wasserkampf am 5. April 1989 den Bus nach Stuttgart besteigt, ist für ihn klar: Er verlässt die DDR für immer. 25 Jahre später lebt er in Hechingen auf der Zollernalb.

Hechingen - Es ist 5.30 Uhr an diesem trüben Mittwochmorgen, als Dirk Wasserkampf einen von 15 Bussen des VE Verkehrskombinats Dresden besteigt. Rund 600 Fans der DDR-Vorzeige-Mannschaft Dynamo Dresden sind auserwählt ihren Fußball-Club zum Uefa-Pokal-Halbfinale beim VfB Stuttgart zu begleiten. Doch obwohl er eingefleischter Dynamo-Anhänger ist, ist der Fußball nur Nebensache für den 20-jährigen Lackierer bei seiner ersten Reise in den Westen. An diesem Tag will er sein Leben ein für alle Mal ändern – er will in die Freiheit.

Es war klar, dass es kein Zurück gibt

„Es war eine einmalige Chance, die wollte ich unbedingt wahrnehmen“, erinnert sich Dirk Wasserkampf 25 Jahre später. „Seit dem Tag, an dem ich wusste, dass ich nach Stuttgart fahren darf, war für mich klar, dass es kein Zurück gibt.“ Es war sein Glück, dass er keine Verwandten im Westen hatte und nie negativ aufgefallen ist. Sein Lebenslauf gleicht dem vieler Facharbeiter im Arbeiter- und Bauernstaat. Nach dem Besuch der Polytechnischen Oberschule erlernt er im Volkseigenen Betrieb VEB Aegir Dresden den Beruf des Lackierers. Neben dem Dynamo-Fan-Club „Teufelskerle“ ist er Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ), im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF).

Es ist Mitte März, als Wasserkampf indirekt erfährt, dass er die Dynamo-Kicker zum Auswärtsspiel begleiten darf. „Wie, du fährst nach Stuttgart?“, hat ein Arbeitskollege ihn plötzlich gefragt. Er selbst weiß noch von nichts, doch die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) haben im Betrieb schon einmal Informationen eingeholt. Wie er arbeite und ob er sich schon einmal kritisch über den Staat geäußert habe, wollen sie in Erfahrung bringen. Das MfS notiert dazu später in seinen Akten: „Die Teilnehmer wurden vor Reiseantritt Sicherheitsüberprüfungen durch die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit unterzogen, die keine Hinweise auf ein ungesetzliches Verlassen der DDR durch Nichtrückkehr erbrachten.“ Erst zwei Tage später bekommt der 20-Jährige offiziell mitgeteilt, dass er nach Stuttgart fahren darf.

„Ich wollte meine Freiheit, wollte Freiheit erleben"

Obwohl Wasserkampf nie zuvor einen Fluchtversuch geplant hat und auch die örtlichen Gegebenheiten in Stuttgart nicht kennt, hat sein Abschied aus der DDR von nun an ein festes Datum: 5. April 1989. „Eine Rückfahrt nach Dresden kam für mich nicht in Frage, ich war 100 Prozent überzeugt, dass das klappt.“ Der Hauptgrund für seinen Fluchtwunsch sei „das Eingesperrtsein“ gewesen, sagt Wasserkampf. „Ich wollte meine Freiheit, wollte Freiheit erleben, ich wollte nicht bevormundet werden, wollte für meine Arbeit belohnt werden und für mein Geld was richtiges kaufen können.“

Über den Entschluss, der sein Leben auf einen Schlag komplett verändern soll, weiht er niemanden ein. Nicht einmal seine Eltern oder seine zwei Jahre jüngere Schwester. „Jedes Wort wäre riskant gewesen, auch wenn es jemand nur ganz beiläufig in einem Nebensatz andeutet oder es aus Versehen rausrutscht“, begründet Wasserkampf sein Schweigen. „Es hieß nicht umsonst: Die Wände haben Ohren. Das Risiko wäre viel zu groß gewesen, dass es jemand aufschnappt. Man wusste nie, wer mithört, wem man vertrauen kann.“

Mitgenommen, was er am Körper trug: seine Kleider

15 Ostmark dürfen die Fußball-Reisenden zum offiziellen Kurs von eins zu eins in D-Mark wechseln, um sich im Stadion eine Wurst und ein Getränk kaufen zu können. Auf dem Schwarzmarkt ertauscht sich Wasserkampf „zu horrenden Preisen“ noch einmal 100 Westmark, „damit ich wenigstens ein bisschen Startkapital hatte“. Ansonsten kann er nur das mitnehmen, was er am Körper trug, seine Kleider.

Das Programm der Stuttgart-Fahrt ist übersichtlich und streng durchgetaktet. Ankunft in Bad Cannstatt am Nachmittag – Besichtigung des Daimler-Benz-Werksmuseums – Besuch des Uefa-Cup-Spiels – Rückfahrt. Alle 600 Reisenden sind in Vierergruppen eingeteilt: jeweils zwei „normale“ Fans begleitet von zwei Aufpassern der Staatssicherheit. Eindringlich wird allen Reisenden eingebläut, keine fremden Leute anzusprechen, nicht mit VfB-Fans Schals oder Wimpel zu tauschen.

Nach dem Besuch des Daimler-Museums, das damals noch mitten im Werksgelände von Untertürkheim steht, geht der Fan-Tross zu Fuß die gut 800 Meter bis zum Neckarstadion. Jetzt, endlich, sieht Dirk Wasserkampf seine Chance gekommen: „Auf dem Weg zum Stadion habe ich mich immer wieder ein bisschen zurückfallen lassen, um zu testen, wann der beste Augenblick ist“, erinnert sich der heute 45-Jährige und gibt zu: „Mir war gar nicht klar, wie ich das eigentlich könnte.“

Dann geht alles blitzschnell

Eine Viertelstunde, 20 Minuten nur gerannt

Doch dann geht alles blitzschnell. „Je näher wir zum Stadion gekommen sind, drängten sich auf der Mercedesstraße immer mehr Fans, immer mehr Stuttgarter kamen dazu, es wurde immer unübersichtlicher“, schildert Wasserkampf die Situation. „Als ich dann wieder weit hinten war, habe ich die Beine in die Hand genommen und bin eine Viertelstunde, 20 Minuten nur gerannt. Wohin, kann ich nicht mehr sagen.“ Als er sich sicher ist, dass ihm niemand gefolgt war, fragt er eine Gruppe Stuttgarter Fans nach der nächsten Polizeiwache. „Es war kein Problem, mit 20 Jahren und einigermaßen trainiert den älteren Herren von der Stasi wegzurennen“, sagt er heute mit einem Schmunzeln, „es war nur wichtig, den richtigen Moment abzupassen.“

Während im Neckarstadion Karl Allgöwer, Jürgen Klinsmann, Fritz Walter sowie Matthias Sammer, Ralf Minge, Torsten Gütschow und Co. aufs Feld marschieren, erreicht Dirk Wasserkampf ausgepumpt die Polizeiwache Bad Cannstatt. „Hier bin ich, hier bleibe ich, ich gehe nicht mehr zurück“, gibt er den Beamten zu Protokoll, „ich komme aus Dresden und möchte nicht mehr zurück.“ Die Polizisten nicken zustimmend und fragen, ob er sich das auch gut überlegt habe. „Ja, für mich gibt es kein Zurück“, bekräftigt Wasserkampf.

Das Spiel mit Cannstatter Polizisten verfolgt

„Jetzt schauen wir erst mal das Spiel an, und wenn Sie dann immer noch bleiben wollen, machen wir die Formalitäten“, antwortet ein Beamter. Die Polizisten holen Pizza und Cola – und schauen mit dem 20-Jährigen das Spiel in der Cannstatter Polizeiwache im Fernsehen an. Dass Karl Allgöwer das siegbringende 1:0 für den VfB erzielt hat, weiß Wasserkampf noch, doch sonst läuft das Spiel völlig an ihm vorbei – Fußball ist jetzt nur noch Nebensache.

Derweil glühen bei den Begleitern vom Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) die Drähte und die Köpfe. Gleich sieben Teilnehmer haben „die Reise in die BRD für den Verrat der DDR genutzt“. So steht es in der den Stuttgarter Nachrichten vorliegenden und mit dem Vermerk „Streng vertraulich!“ versehenen „Information über bekanntgewordene Sachverhalte in Verbindung des Aufenthaltes von Reisegruppen des Reisebüros der FDJ ,Jugendtourist‘ (...) in Stuttgart“.

Im Protokoll des sogenannten Hauptreiseleiters liest sich die Flucht so: „Wasserkampf setzte sich auf dem Weg vom Stellplatz der Busse zum Stadion unbemerkt von der Reisegruppe ab und begab sich zum nahegelegenen Polizeirevier Bad Cannstatt. Dort bat er um ,politisches Asyl‘ und begründete seine ,Flucht‘ aus der DDR.“

Seine erste Nacht im Westen verbringt er in einem Apartment, das als Notunterkunft dient. Am nächsten Morgen fährt er mit dem Zug nach Gießen in die Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR. Weil er im süddeutschen Raum bleiben will, geht es von Gießen über Rastatt nach Hechingen, ebenfalls in eine Notunterkunft.

Eine neue Heimat im Süden

Postkarte an Mutter: "Mir geht es blendend"

Noch im badischen Rastatt gibt er die erste Postkarte an seine Mutter in Dresden auf; sie trägt den Poststempel vom 17. April 1989 und findet sich in Kopie ebenfalls in Wasserkampfs Stasi-Akten: „Das erste Lebenszeichen aus der BRD. Mir geht es blendend. Ich hoffe Du hast nicht all zu viel Unannehmlichkeiten wegen mir gehabt. Adresse kann ich Dir noch nicht schicken. Mache ich aber wenn ich eine eigene Wohnung habe. Das war’s erst mal. Brief folgt.“

Seine Eltern werden in dieser Zeit täglich von der Staatssicherheit in die Mangel genommen. „Für sie war meine Flucht hart“, weiß Wasserkampf, „sie mussten jeden Tag zum Verhör, die Zimmer zuhause wurden durchsucht nach Hinweisen, ob jemand nachkommt, ob jemand Bescheid wusste.“ Wasserkampf wird zur Fahndung ausgeschrieben, das Kreisgericht Dresden erlässt am 26. April 1989 Haftbefehl gegen ihn. „Er wird beschuldigt, einen ungesetzlichen Grenzübertritt begangen zu haben“, lautet der Vorwurf des zuständigen Richters. Davon freilich bekommt der 20-Jährige nichts mit. Er beginnt, sich eine neue Existenz aufzubauen.

„Es gab noch 100 Mark Begrüßungsgeld – und so bin ich mit 215 Mark und den Klamotten, die ich am Leib hatte, gestartet“, erinnert sich Wasserkampf. „Für mich war klar, das erste, was ich brauche ist ein Job, um an Kohle zu kommen.“ Nach vier Wochen bekommt er bei einem Tübinger Malerbetrieb eine Stelle als Industrielackierer, zwei Monate später bezieht er eine Ein-Zimmer-Wohnung in Bodelshausen bei Hechingen. „Von da an, Ende Juni, war ich komplett selbstständig“, erzählt Wasserkampf zufrieden. „Es ging alles sehr flott.“

In seiner neuen Heimat findet er schnell Anschluss – wieder hilft der Fußball. Er schließt sich den Sportfreunden Sickingen an, bei denen er auch heute noch in der zweiten Mannschaft kickt und seit 17 Jahren im Vorstand ist. Kontakt zu seiner Familie in Dresden gibt es aber kaum, er weiß nicht einmal welche Briefe und Postkarten ankommen und welche von der Stasi abgefischt werden.

Wasserkampf bereut seine abenteuerliche Flucht nicht

„Ich hatte vor meiner Flucht damit gerechnet, meine Familie sehr lange nicht mehr zu sehen und auch wenig von ihr zu hören“, sagt er. Dass er dann schon die Weihnachtsfeiertage 1989 wieder in Dresden verbringt, daran hätte er nicht im Traum geglaubt. Den Fall der Mauer am 9. November 1989 verfolgt er im Fernsehen. „Ich konnte nicht einmal zu Hause anrufen, meine Eltern hatten kein Telefon.“

Bereut hat er seine abenteuerliche Flucht sieben Monate zuvor aber nicht. „Ich habe den Mauerfall im Stillen gefeiert, ich hatte den Schritt ja schon gemacht und mir eine neues Leben aufgebaut“, sagt Dirk Wasserkampf, der noch heute in Hechingen wohnt und seit 17 Jahren bei einem Hersteller von Dialyse-Geräten am Ort arbeitet. „Für mich war es gut so, dass ich schon im Westen war, später wäre es sehr viel schwerer gewesen einen Job und eine Wohnung zu finden.“

Ein Jahr später lernt er seine heutige Frau Sabine bei einem Spanien-Urlaub kennen – ihre beiden 15 und 21 Jahre alten Kinder kennen die Mauer und die DDR nur aus Geschichtsbüchern.