Die Intensivkrankenschwester Anne Graser hat die Häusliche Kinderkrankenpflege vor 25 Jahren mitgegründet, weil ihr klar war, dass Eltern schwerstkranker Kinder auch zu Hause Unterstützung benötigen. Wir haben sie an einem Arbeitstag bei zwei Hausbesuchen begleitet.
Stuttgart - Die kleine Hanna will nicht trinken. Sie hustet und streckt weinend den Kopf nach hinten. „Na, komm, noch ein bisschen“, sagt Anne Graser mit sanfter Stimme und streichelt zart eine Träne von der Wange. Dann versucht sie es erneut, führt das Fläschchen an die Lippen des sechs Monate alten Mädchens, wiegt es dabei in ihren Armen. So folgt Versuch auf Versuch. Einmal hat sie das Gefühl, Hanna habe etwas an dem Sauger gesogen, auf jeden Fall hatte sie ihn im Mund – ein Erfolg.
Fünf Mal die Woche jeweils für zwei Stunden am Morgen kommen Fachkräfte der Häuslichen Kinderkrankenpflege (HKP) zu Hannas Mutter nach Hause, um ihr beim Fläschchentraining und dem Sondieren der Nahrung zu helfen. Sechs Mahlzeiten täglich bekommt das Mädchen , das mit einem sehr seltenen Syndrom auf die Welt gekommen ist: eineinhalb Stunden dauert das im Schnitt – pro Mahlzeit. Miriam Kuster, die wie ihr Kind anders heißt, managt die Pflege vorwiegend alleine, ihre Familie ist nicht vor Ort. Umso wichtiger sind die zwei Stunden am Vormittag: Zeit, um zu duschen, um zu frühstücken, um einzukaufen. Während Anne Graser nun die pumpende Magensonde überwacht, verschwindet die Mutter schnell ins Badezimmer.
Die Idee kam ihr auf der Neugeborenenintensivstation
Vor 30 Jahren hatten Mütter wie Miriam Kuster in Stuttgart noch keine Unterstützung mit ihren kranken Kindern zu Hause. Anne Graser hat das als große Lücke erlebt. Anfang der 80er Jahre arbeitete sie im Olgahospital auf der Neugeborenenintensivstation. Sie erinnert sich noch gut an eine Familie, deren Kind längst nach Hause gekonnt hätte. Doch die Mutter traute sich die Pflege nicht zu. Damals hatte Anne Graser den Traum von einer häuslichen Kinderkrankenpflege. Jahre hat sie die Idee mit sich herumgetragen, um sie dann im Jahr 1991 gemeinsam mit der Kollegin Claudia Edelmann zu verwirklichen – ermöglicht durch die Anschubfinanzierung der Robert Bosch Stiftung.
Zu zweit fingen die beiden Frauen an. Heute, 25 Jahre später, sind 21 Kinderkrankenschwestern und 16 Aushilfen bei dem Verein – diesen Samstag wird das Jubiläum gefeiert. War in den Anfangsjahren die Finanzierung durch die Krankenkassen ein Problem, so ist es nun der Fachkräftemangel, der den Verein genau so wie die privaten Pflegedienste trifft. Da immer mehr schwerstkranke Kinder überleben, ist auch der Bedarf gestiegen. Aktuell betreut die Häusliche Kinderkrankenpflege rund 40 Familien in Stuttgart. Es sind Kinder darunter, die wegen Sauerstoffmangels bei der Geburt behindert sind, Kinder, die viel zu früh auf die Welt gekommen sind, Kinder mit Fehlbildungen und seltenen Erkrankungen, aber auch Unfallopfer.
Die meisten Kinder mit der Krankheit kommen tot auf die Welt
„Hallo Julchen“, begrüßt Anne Graser wenig später in einer anderen Wohnung in der Stuttgarter Innenstadt ein Mädchen. Die Dreijährige, um die sich Anne Graser in der Zeit nach der Geburt intensiv gekümmert hat, wird gerade von einer Kollegin mit Brei gefüttert. Sie ist mit der Genmutation Trisomie 9 lebend geboren worden – schon das ist ein kleines Wunder. Die meisten Kinder mit Trisomie 9 sterben im Mutterleib, deshalb gibt es kaum Erfahrungen. Julias Bauplan sei ein völlig anderer als der anderer Kinder, erklärt ihr Vater Robert. Die Organe haben ungewöhnliche Positionen, sogar die Venen verlaufen anders. Das Mädchen hat keine Körperspannung und kann wegen einer Skoliose (Verformung der Wirbelsäule) nur seitlich schmerzfrei liegen. Über eine Magensonde bekommt Julia Flüssigkeit. Auch ein künstlicher Blasenausgang muss versorgt werden, nachts braucht sie Sauerstoff. Mutter Mirka übernimmt den Großteil der Pflege. Fünfmal die Woche kommt für vier Stunden eine Fachkraft der Häuslichen Kinderkrankenpflege – bei Notfällen auch am Wochenende.
Erst am Tag der Geburt haben die Eltern erfahren, dass ihr zweites Kind schwerstkrank ist, was keiner der Tests vorausgesagt hatte. „Man darf die Krankheit nicht mit dem Kind verwechseln, sie ist unser Julchen“, sagt Vater Robert liebevoll, der nur mit Vornamen in der Zeitung erscheinen will. Er ist froh, dass sie ein zufriedenes Kind ist. Sie kann nicht sprechen, aber sie kann lachen – und, wenn man ihr einen Pinsel in die Hand drückt, malt sie. Wenn sie Angst hat, schließt sie die Augen. Das sei schon immer so gewesen, berichtet ihr Vater. In ihren ersten sechs Lebenswochen im Krankenhaus waren ihre Augen immer zu. „Am ersten Tag zuhause hat sie sie aufgemacht“, erzählt Mirka. Am Überwachungsgerät sehen die Eltern oder die Pflegekräfte, ob Julia wirklich schläft oder wach ist.
Julia spielt auf dem Glockenspiel
Manche Mütter hätten Probleme, dass jemand bei ihnen zu Hause ist und sich um das eigene Kind kümmert, berichtet Anne Grasers Kollegin Christel Wessinger. „Ohne diese Hilfe ginge es nicht“, ist Robert überzeugt. Freunde hätten zwar angeboten, auf Julia aufzupassen, aber das gehe nicht. Ständig könnte ein Alarm losgehen. Wenn aber eine Schwester da sei, könnten sie beruhigt das Haus verlassen. Und auch Arztbesuche und Klinikaufenthalte ersparten die kompetenten Kräfte ihnen. Sogar eine Lugenentzündung habe man zuhause auskuriert und bei Problemen wie allergischen Reaktionen gemeinsam Lösungen gefunden. Für sie seien die Besuche unter der Woche sehr wichtig, sagt die 47-jährige Mutter, „auch menschlich“.
Dann zeigt sie, was Julia von Anne Graser gelernt hat. Sie gibt ihrer Tochter einen Holzschläger in die Hand, hält ihr das Glockenspiel hin. Julia entlockt dem Instrument Töne, sie lächelt – und verzaubert damit alle im Raum.