Nach dem Schlusspfiff beißt Oliver Kahn im Camp Nou von Barcelona buchstäblich ins Gras. Kein Wunder nach dem, was gerade passiert ist. Klicken Sie sich durch unsere Bildergalerie. Foto: dpa

Eine Niederlage wie das 1:2 des FC Bayern gegen Manchester United im Champions-League-Finale 1999 wünscht man nicht einmal seinem schlimmsten Feind. Oder etwa doch? Marko Schumacher erinnert sich an den Abend seiner ganz persönlichen Abrechnung.

Stuttgart - Ich gebe es gleich am Anfang zu: Ja, ich bin ein kleingeistiger, ein schadenfroher, ein schlechter Mensch. Und genau deshalb gehört jener Abend vor 20 Jahren, der für alle Bayern-Fans auf dieser Welt zum schlimmsten Albtraum wurde, für mich zu einem der schönsten Fußball-Erlebnisse aller Zeiten.

26. Mai 1999, Champions-League-Finale in Barcelona, FC Bayern gegen Manchester United. Mein Freund Guido hat zu sich nach Kemnat geladen und den Fernseher in die Scheune neben dem Haus gestellt, den Grill davor. Knapp 20 Mann sitzen auf Bierbänken, essen Rote Würste und trinken Stuttgarter Hofbräu. Matze und Thorsten sind darunter, zwei glühende Bayern-Fans, viele VfB-Anhänger, die bei Europapokalspielen zu den deutschen Teams halten („Wegen der Fünfjahreswertung“). Und ich.

Wen interessiert schon die Fünfjahreswertung der Uefa?

Die Uefa-Fünfjahreswertung hat mich noch nie interessiert, ich habe auch nie begriffen, wie man sich über Siege von Vereinen freuen kann, denen man normalerweise die Pest an den Hals wünscht. Ich mag die Bayern nicht, ich mochte sie noch nie, damals verachtete ich sie sogar. Diese Lederhosen-Folklore, die Mia-san-mia-Arroganz, die Kahns, Baslers, Effenbergs und Matthäus’. Zu oft habe ich früher mit meinem Vater bei VfB-Auswärtsspielen im Olympiastadion den Bayern beim Jubeln zuschauen müssen. Und auf der Rückfahrt standen wir im Stau.

Jetzt also das Endspiel in Barcelona. Es hat kaum begonnen, da geht’s schon wieder los. Freistoß von Mario Basler flach ins Torwarteck, Peter Schmeichel, angeblich einer der besten Keeper der Welt, schaut nur hinterher – 1:0 für die Bayern. Matze und Thorsten liegen sich in den Armen, ich hole mir ein neues Bier.

Im Bayern-Trikot brüllt Gerry „Jaaaaa!“ und ballt die Faust wie Boris Becker

Und denke an Gerry, meinen Freund und früheren Mitbewohner, den vielleicht größten Bayern-Fan auf diesem Planeten. Er ist nach Barcelona geflogen und steht jetzt im Bayern-Trikot unter 90 000 Zuschauern im Camp Nou. Ich stelle mir vor, wie er mit weit aufgerissenen Augen „Jaaaaaa!“ brüllt und die Faust ballt wie Boris Becker. So wie bei Bayern-Spielen vor dem Fernseher in unserer WG. Ich bin froh, dass ich das diesmal nicht miterleben muss.

In der Pause eine weitere Bratwurst, in der zweiten Hälfte weiteres Hofbräu. Dann geht das Spiel in die Schlussphase. Scholl trifft den Pfosten, Jancker die Latte, Matthäus lässt sich auswechseln, Matze und Thorsten rauchen Kette und sind dem Nervenzusammenbruch nahe. Am Spielfeldrand liegen Kappen mit der Aufschrift „Champions League-Sieger 1999 – FC Bayern München“ bereit. Mario Basler, in der 89. Minute ausgewechselt, hat sogar schon eine auf dem Kopf. Mein Freund Gerry wird mir später erzählen, er habe sich bei Ablauf der regulären Spielzeit eine letzte Zigarette angesteckt und sich gesagt: Wenn sie abgebrannt ist, haben wir den Pott. Nun ja.

Beckham, Sheringham, Tor – Beckham, Solskjaer, noch ein Tor

Es folgen Momente, die kein Fußballfan je vergessen wird. Ich am allerwenigsten. Eckball David Beckham von links, Gestocher im Münchner Strafraum, Teddy Sheringham staubt ab – 1:1. Matze und Thorsten schreien vor Entsetzen. Doch es kommt noch besser. Noch ein Beckham-Eckball von links, Sheringham köpft, Ole Gunnar Solskjear hält den Fuß hin – 2:1 für ManU. Das Spiel ist aus.

Schockstarre in Guidos Scheune.

Mich zerreißt es fast. Ein Restfunken an Anstand, ein Minimum an Mitgefühl mit meinen Kumpels Matze und Thorsten, die nun bäuchlings auf dem Boden liegen, verbieten es mir, Jubeltänze auf der Bierbank aufzuführen. Das tue ich erst, als die beiden kurz darauf benommen davon wanken und dabei vergessen, ein paar Bier für den Weg mitnehmen. Wahrscheinlich holen sie sich an der nächsten Tankstelle je eine Flasche Doppelkorn. Schlimmer kann man nicht verlieren. Wenn ich mich richtig erinnere, singe ich „Oh, wie ist das schön, oh, wie ist das schön . . .!“

Ein Glücksgefühl wie nach dem Siegtreffer im Klassenkick gegen die 7a

Was für eine Genugtuung! Was für eine Entschädigung für all die Demütigungen der Vergangenheit! Ein solches Gefühl des vollkommenen Glücks hatte ich nicht oft beim Fußball. Beim letzten Elfmeter von Horst Hrubesch im WM-Halbfinale 1982 gegen Frankreich, bei meinem Siegtreffer im Klassenkick 1983 gegen die 7a, beim Kopfballtor von Guido Buchwald 1992 in Leverkusen. Und jetzt beim Anblick von Oliver Kahn, der verzweifelt im Fünfmeterraum kniet und nicht in den Hals von Heiko Herrlich beißt, sondern buchstäblich ins Gras. Wäre ich damals Vater eines Sohnes geworden, ich hätte ihn Ole Gunnar getauft.

Eine solche Niederlage wünscht man nicht einmal seinem schlimmsten Feind. Aber es sind halt die Bayern. Zur Sicherheit sage ich es noch einmal: Ja, ich bin ein schlechter Mensch. Und ja, es war mein ganz persönlicher Payback-Abend. Die Rache des kleinen Mannes.

Im Champions-League-Finale 2001 hält Oli Kahn drei Elfmeter – was soll’s?!

Der Vergeltungsschlag der Bayern ist gnadenlos. Zwei Jahre später muss ich Kahn dabei zuschauen, wie er im Endspiel von Mailand drei Elfmeter gegen den FC Valencia hält und die Bayern zum Champions-League-Sieger macht. Verdammt, denke ich. Aber was soll’s?! Die Erinnerung an Guidos Scheune in Kemnat und die Nachspielzeit in Barcelona kann mir keiner nehmen. Da können die Bayern noch so viele Titel holen.

Und wenn jetzt der Shitstorm der Bayern-Fans folgt, dann plädiere ich auf Verjährung. Und sage: Hey, es ist doch nur Fußball.