Der Stuttgarter Klaus S. und Bettina T. aus Esslingen wurden brutal angegriffen – er starb, sie überlebte. Foto: PA//Lehtikuva Oy

Knapp 34 Jahre nachdem der Stuttgarter Klaus S. auf der „Viking Sally“ brutal getötet wurde, steht ein Ex-Pfadfinder vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft – am 30. Juni soll das Urteil gesprochen werden.

Turku/Stuttgart - Früh am Morgen wird Thomas S. von Helikoptergeräuschen kurz wach. Der 21-Jährige schließt noch mal die Augen auf seinem improvisierten Schlafplatz im Inneren der „Viking Sally“, der Fähre, die ihn und seine zwei Begleiter an diesem Julitag 1987 von Schweden nach Finnland bringen soll. Wenig später wird Thomas S. geweckt – von zwei Polizeibeamten. Er wird befragt, stundenlang.

 

Erst als er sich weigert, weitere Fragen zu beantworten, erfährt er endlich, was passiert ist: Seine Freunde, der Stuttgarter Klaus S. und Bettina T. aus Esslingen, wurden brutal angegriffen und schwer verletzt an Deck des Schiffes gefunden. Klaus wird im Krankenhaus für tot erklärt. Bettina überlebt nur knapp. Jahrelang führen die Ermittlungen der Polizei ins Leere. Dabei hatten sie den mutmaßlichen Täter stets vor Augen.

Die drei Stuttgarter waren mit dem Interrail-Ticket nach Stockholm gefahren

Nun, fast 34 Jahre nach der Tat, steht der damals 18-jährige Pfadfinder Herman H. vor dem Bezirksgericht im finnischen Turku. Dem Dänen wird Mord und versuchter Mord vorgeworfen. An diesem Montag hat der Prozess vor dem Bezirksgericht Südfinnland begonnen. Die finnische Polizei hatte die Ermittlungen 2016 aufgrund neuer Erkenntnisse wieder aufgenommen. Doch dazu später mehr.

In ihrer Anklage spricht die Staatsanwaltschaft von besonderer „Rohheit und Grausamkeit“ der Tat, die sich „gegen ein die Gefahr nicht ahnendes und wehrloses Opfer richtete, das keinerlei Anlass zu gewalttätigem Verhalten gegeben hatte.“ Mit einem auf dem Schiff gefundenen Schlackenhammer soll Herman H. mehrfach auf die Köpfe seiner Opfer eingeschlagen haben. Der Bezirksstaatsanwalt fordert eine lebenslange Haftstrafe. Der Anwalt des Angeklagten plädiert auf nicht schuldig.

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Mit dem Interrail-Ticket waren die drei Freunde Klaus, Bettina und Thomas aus der Region Stuttgart nach Stockholm gereist. Von dort wollten sie zum Ruisrock, dem berühmten Rockfestival auf der finnischen Insel Ruissalo. Danach sollte die Reise über Lappland und Bergen bis nach Oslo führen. Doch sie fand auf der Fährfahrt durch das Schärenmeer vor Südfinnland bereits ihr tragisches Ende.

Das Helikopter-Deck der „Vikink Sally“ war mit Blut bedeckt

Der 20-jährige Klaus S. und die zwei Jahre ältere Bettina T. waren noch nicht lange ein Paar. Sie haben sich in einem Nachtclub kennengelernt. Thomas S. und Klaus S. hingegen waren schon länger befreundet – sie verband vor allem die Treue zum VfB Stuttgart. Die Reise sei eher spontaner Natur gewesen, erzählt Thomas S. später dem finnischen Rundfunk Yle. An Bord der „Viking Sally“ habe er das junge Paar nicht stören wollen und sich daher im Inneren des Schiffes einen Schlafplatz gesucht. Klaus und Bettina hatten sich gegen 1 Uhr in der Nacht auf den 28. Juli 1987 auf das Helikopterdeck der Fähre zurückgezogen.

Als der Notarzt Heikki Masculine wenige Stunden später an diesem Platz aus dem Rettungshubschrauber tritt, war ihm sofort klar, dass es sich nicht um die alltäglichen Einsätze wegen Herzinfarkten, Stürzen oder den Folgen von Alkoholmissbrauch handelt. Der Landeplatz war mit Blut bedeckt, so erzählt er es dem finnischen Rundfunk. Die jungen Deutschen werden mit schwersten Kopfverletzungen ins Krankenhaus nach Turku gebracht, Klaus wird dort für tot erklärt, Bettina kann in einer Notoperation das Leben gerettet werden.

Der nun angeklagte Däne war 1987 der Hauptzeuge

Die Ermittlungen werden sofort aufgenommen, die rund 1400 Passagiere der Fähre bei der Ankunft in Turku gefilmt. Man war vorbereitet: Bereits im Jahr davor kam es auf dem gleichen Schiff zu einem Tötungsdelikt, die Passagiere waren aber bereits von Bord und in alle Himmelsrichtungen verstreut, bevor sie befragt werden konnten. Doch auch im Jahr 1987 gestalten sich die Ermittlungen als schwierig. Daten von den Passagieren gibt es keine – damals kaufte man einfach ein Ticket und stieg auf das Schiff. Auch die Kriminaltechnik war Ende der 1980er Jahre noch nicht vergleichbar mit den heutigen Möglichkeiten. So wurde die DNA-Analyse in Finnland erst in den 1990er Jahren etabliert. Das Verbrechen selbst hat niemand beobachtet – und Überwachungskameras gab es 1987 nur für das Autodeck und den Maschinenraum. Die Ermittler mussten sich also vor allem über die Vernehmungen ein Bild von der Lage machen.

Der nun angeklagte Däne war im Sommer 1987 quasi der Hauptzeuge. Er und drei weitere Pfadfinder, deren Gruppe sich auf der Fähre befunden hatte, finden die beiden Schwerverletzten gegen 3.45 Uhr morgens auf dem Hubschrauberdeck. Nicht nur gegenüber der Polizei, auch mehreren Medien hat der junge Mann damals bereitwillig Auskunft gegeben.

Raubüberfälle, Waffendelikte und spektakuläre Fluchten aus dem Gefängnis

In den Fokus der Ermittlungen gerät er aber erst 2016. Dazu wollte sich der Däne nun nicht mehr vor der Presse äußern, sein Anwalt betont, sein Mandant sei unschuldig. Die neuen Erkenntnisse, die nun, knapp 34 Jahre nach der schrecklichen Tat, sogar zur Anklage geführt haben, werden seit Montag vor Gericht verhandelt.

Noch vor Prozessbeginn scheint der Fall vielen plötzlich klar: In den vergangenen Jahren soll Herman H., der heute Anfang 50 ist, des Öfteren strafrechtlich in Erscheinung getreten sein. 19 Jahre seines Lebens soll er bereits im Gefängnis verbracht haben – Raubüberfälle, Waffendelikte, Betrug –, auch mit spektakulären Fluchten aus der Haft ist er aufgefallen. Außerdem hat er wohl seit 1987 mehrmals seinen Namen geändert. Laut der dänischen Zeitung „Ekstra Bladet“ soll sogar eine der größten Goldraube der vergangenen 200 Jahre auf das Konto des nun im Mord auf der „Viking Sally“ Angeklagten gehen: 1994 soll H. den aus 1,8 Kilo Gold gefertigten Wikingerring, den Tissa-Ring, gestohlen haben.

Eine SMS könnte den Täter nach rund 30 Jahren überführt haben

Eine SMS, die er im Jahr 2015 an seine Ex-Frau verschickt haben soll, soll den Dänen, der als junger Pfadfinder damals auf der Fähre mitfuhr, nun entlarvt haben. Mit den Worten „Du hast recht, ich kann böse sein, ich habe schon zweimal getötet“, soll Herman H. sie bedroht haben. Doch im Laufe des Prozesses kommen Verfahrensfehler ans Licht: So soll H. zu den besagten SMS ohne anwaltlichen Beistand vernommen worden sein – als Beweis wäre dieses Verhör damit nicht zulässig.

Würde der Däne tatsächlich wegen Mordes verurteilt, wäre dies ein juristischer Rekord: Es wäre die längste Zeitspanne zwischen einer Tat und ihrer Verurteilung in Finnland. Bisher lag dieser bei 21 Jahren.

Mord oder doch Totschlag?

Die Frage, die das Bezirksgericht in Südfinnland auch zu klären hat, ist, ob es sich bei dem Verbrechen auf der „Viking Sally“ tatsächlich um Mord handelte. Zunächst war in Finnland wegen Totschlags und versuchten Totschlags ermittelt worden. Der Fall wurde Anfang der 2000er Jahre in Mordermittlungen umgewandelt – denn Mord verjährt im Gegensatz zu Totschlag in Finnland nicht. Lange wollte sich das Gericht mit der endgültigen Klärung dieses Falles nicht Zeit lassen: Die Verhandlung war zunächst auf nur eine Woche terminiert, das Gericht plante ursprünglich, an diesem Freitag zu erklären, wann es sein Urteil bekannt geben wird. Dies könnte sich nach den Erkenntnissen aus dem Prozess allerdings nun doch verzögern.

Für die Angehörigen des Opfers dürfte das alles nur schwer zu ertragen sein. Sie wollen sich öffentlich nicht zu dem Fall äußern.

Ungeklärt bleibt weiterhin wohl das Schicksal der „Viking Sally“. 1993 wurde der Name des Schiffes geändert in „MS Estonia“. Ein Jahr später, in der Nacht zum 28. September 1994, sank die Fähre in der Ostsee und riss 852 Menschen in den Tod. Die Umstände eines der schwersten Schiffsunglücke der europäischen Nachkriegsgeschichte sind bis heute unklar.