Totale Überwachung: Orwells Roman „1984“ wurde verfilmt (im Bild eine Szene mit John Hurt). Foto: 20th Century Fox

George Orwells „1984“ handelt vom Leben in einem totalitären Überwachungsstaat. Ryan McBryde bringt den Roman am Alten Schauspielhaus auf die Bühne. Im Interview zieht er Parallelen zu heutigen Spionage- und Folterstrategien und sagt, was die Popsongs von Britney Spears damit zu tun haben.

Stuttgart – - Mr. McBryde, Sie sind Engländer, Ihre Schauspieler sprechen Deutsch. Wie funktioniert die Kommunikation auf der Probe?
Die Sprache des Theaters ist universell. Wir reden darüber, was gerade in einer Szene verhandelt wird. Wir gehen den Text Satz für Satz durch und versuchen auch immer, ein treffendes Verb zu finden, das beschreibt, was gerade passiert und wie die Szene zu spielen ist.
Selbst wenn Ihre Arbeitssprache Englisch ist, haben Sie sicher auch schon ein bisschen Deutsch gelernt. Was war Ihr erstes deutsches Wort?
Teufel (lacht). Ich kenne auch schwanger – aus der Inszenierung „Hexenjagd“. Und Gedankenpolizei.
Gedankenpolizei kennen Sie wohl aus „1984“, wo der Staat den Bürger kontrolliert. Sehen Sie Parallelen zu unserer Gesellschaft?
Ja, natürlich. Ich möchte kein historisches Stück inszenieren, in dem man etwas über die Vergangenheit lernt. Ich will auf der Bühne zeigen, inwiefern es für die Gegenwart relevant ist. „1984“ handelt von der Beziehung zwischen Staat und Individuum. Kann sich das Individuum in einer Gesellschaft frei entfalten? Wie lebt man in einem totalitären Regime? Solche Regimes gibt es ja auch heute, denken Sie an Nordkorea. Aber auch in westlichen Regierungen werden Leute ausspioniert, sogar Regierungen spionieren sich gegenseitig aus. Auch Internetspionage und Folter sind nicht nur auf totalitäre Staaten beschränkt.
Worüber soll das Publikum nachdenken, wenn es das Stück gesehen hat?

Ich möchte dem Publikum nichts aufzwingen. Die Frage aber ist: Wird Winston seine Menschlichkeit bewahren? Er beginnt gegen die Autoritäten zu rebellieren, führt Tagebuch, was verboten ist. Wegen einer verbotenen Liebesbeziehung wird er gefangen genommen und durch Folter seiner Menschlichkeit beraubt. Das Stück haben wir in unserer Inszenierung ein wenig in die Zukunft versetzt. Die Schauspieler tragen keine Uniformen, sondern Anzüge. Das ist die Uniform der Menschen heute, die Welt wird von Menschen in Anzügen beherrscht.

Sie haben angekündigt, auch Videoaufnahmen zu zeigen. Was ist da zu sehen?
Es gibt zum Beispiel eine Fernsehreporterin, die ständig Nachrichten präsentiert. Darin geht es immer um Krieg. Es gibt in dem Stück den Satz „war is peace“ – also Krieg ist Frieden, man befindet sich ständig im Krieg. Der Zustand in „1984“ erinnert an den Kalten Krieg, wo es keinen tatsächlichen Krieg gab, aber die Bedrohung des Krieges immer gegenwärtig war. Das ist heute ähnlich, wenn wir an George Bushs Ansage: „War on terror“ – Krieg gegen den Terror – denken und den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Wenn wir gemeinsam den anderen, den Feind, hassen, eint uns das. Diese Bedrohung von außen soll die Menschen im Kampf gegen diese Bedrohung einander näher bringen. Sie kennen das doch auch aus dem Alltag.
Wie meinen Sie das?
Es geht um Sündenböcke und Mobbing. Eine eigentlich nicht unbedingt homogene Gruppe sucht sich jemanden, der schwach ist, den sie dann unterdrücken will. Das gibt dieser Gruppe ein Ziel, ein Gemeinschaftsgefühl, ein Gefühl der Macht, der Stärke.
In „1984“ geht es auch um Folter. Wie stellen Sie das auf der Bühne dar?
Wir werden keine blutigen Szenen zeigen, aber wir haben uns mit den Foltermethoden von Guantánamo befasst. Leute werden in bestimmte Sitzpositionen gezwungen oder künstlich wach gehalten oder permanent mit Musik beschallt – zum Beispiel offenbar auch mit „Toxic“ von Britney Spears. Der Schauspieler, der den Folterer verkörpert, agiert nicht brachial, sondern eher ruhig, fast sanft. Ich finde ihn sehr beängstigend!
Wie wählen Sie die Schauspieler aus?
Ich bin sehr wählerisch. Meiner Meinung nach hängen 60 Prozent des Erfolges von der Besetzung ab. Einige Schauspieler kannte ich aus den Produktionen „Hexenjagd“ und „Frühlings Erwachen“, die ich am Alten Schauspielhaus inszeniert habe. Aber natürlich gab es auch ein klassisches Casting.
Können Sie sich mit einem der Charaktere des Textes identifizieren?
Ich bin wie der von der Gedankenpolizei drangsalierte Winston kein Freund von Autoritäten. Ich mag es nicht, wenn mir jemand sagt, was ich zu tun habe. Zum Bespiel fand ich es schrecklich, Schuluniformen zu tragen. Ich wollte mich keinen Regeln beugen. So beeinflusst meine Kindheit meine Arbeit als Erwachsener.
Als Regisseur sind Sie aber auch eine Autorität. Wie gehen Sie damit um?
Deutsche Schauspieler sind oft so, dass sie von einem Regisseur Anweisungen haben möchten, was zu tun ist. Ich mache das nicht. Ich frage immer auch nach der Meinung der Schauspieler, weil ich selbst nicht immer die besten Ideen habe. Manchmal hat jemand anders bessere. Ich arbeite gern mit Schauspielern, die eigene Ideen einbringen.
Wann ist der Punkt erreicht, an dem Sie mit einer Inszenierung zufrieden sind?
(Lacht) Ein Regisseur ist niemals zufrieden.

Das Interview wurde geführt von Studierenden der Universität Stuttgart im Rahmen des von Nicole Golombek (Redakteurin unserer Zeitung) geleiteten Seminars „Journalistisches Schreiben“.

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