Stimmungsvoller Faschingsball im Excelsior im Jahr 1928. Foto: Zeitschrift Gesellschaft und Leben

Nicht mehr lange, dann werden die goldenen 20er Jahre in bunten Filmen und prächtigen Bildbänden gewürdigt. Neben Berlin war Stuttgart von 1920 bis 1930 eine Hochburg der Avantgarde. Über das Lebensgefühl der Roaring Twenties spricht der Stuttgarter Historiker Jörg Schweigard.

Herr Schweigard, Sie sind Jahrgang 1969. Aber vielleicht wären Sie lieber 69 Jahre früher geboren: Als Jahrgang 1900 hätten Sie als Twen diese erregende Zeit selbst miterleben können?
Also, ich lebe gerne in der Gegenwart. Auch das Aktuelle ist spannend. Aber interessant wäre es schon, wenn es die Möglichkeit gäbe, beispielsweise mal einen Abend im Jahr 1928 in den Stuttgarter Bars zu verbringen. Und selbst zu erfahren, ob die Betrachtungen in den Zeitungen oder Reiseführern von damals tatsächlich zutreffen und das Stuttgart Nachtleben in jenen Jahren wirklich derart spannend und aufregend war.
Na, bei den wilden 20ern denkt man heute an Berlin, aber doch bestimmt nicht an Stuttgart.
Das ist aber falsch – vielleicht mitbegründet durch bekannte Filme wie „Cabaret“, „Comedian Harmonists“ oder „Fabian“ nach Erich Kästner, die in jener Zeit spielen und Berlin als Weltmetropole darstellen. Doch auch in Stuttgart tobte damals durchaus die Avantgarde. Es gab eine Aufbruchstimmung in mehreren deutschen Großstädten, in Europa und den Vereinigten Staaten. Stuttgart war eine sehr experimentierfreudige Stadt. Die Massen wollten leben nach dem Weltkrieg, wollten unterhalten werden. Vor allem die wachsende Zahl der Angestellten zog nach Arbeitsschluss auf der Suche nach Zerstreuung ins Kabarett, in Tanzsäle, Varietés, Nachtclubs und auf Rummelplätze.
Ausgehmöglichkeiten gab es genug?
Absolut. Im Sommer war die Weinstube am See im Stadtgarten überfüllt. Es gab das Café Fürstenhöfle am Wilhelmsplatz, im Kunstgebäude spielte zum leisen Plätschern des Springbrunnens eine Kapelle zum Fünf-Uhr-Tee auf. Die bessere Gesellschaft traf sich im Hotel Marquardt zum Tanz oder zu Konzerten. Das größte Café im Hindenburgbau dehnte sich über drei Stockwerke aus, bot Platz für 1000 Menschen.
Und Stars waren hier zu Gast, die selbst heute noch einen klangvollen Namen haben.
Ein beliebter Treffpunkt war das Excelsior an der Ecke Büchsen- und Schloßstraße. Die junge Lale Andersen sang hier Seemannslieder. Kabarettist Joachim Ringelnatz rezitierte immer angesäuselt in seinem Matrosenanzug anstößige Gedichte. Häberle und Pfleiderer, also Willy Reichert und Oscar Heiler, erlebten im Excelsior 1931 ihre Geburtsstunde. Und ganz in der Nähe, im Friedrichsbau, führte Josephine Baker, die ja mit ihrem Bananenröckchen das Cover für die aktuelle Ausstellung zum Jazz im Stuttgarter Kunstmuseum ziert, ihre erotische Tänze auf. Während die Nackttänzerin anderswo Auftrittsverbot hatte, war sie in Stuttgart ein gern gesehener Gast.
Ganz schön viel los für ein solches Städtchen.
Ach, so klein war Stuttgart gar nicht. 1918 lebten hier 293 000 Menschen, Anfang der 30er Jahre waren es bereits 400 000. Doch Sie haben recht, das eigentliche Stuttgarter Zentrum, in dem sich das Nachtleben abspielte, war übersichtlich. Man konnte von einem Lokal zum nächsten ziehen. Und dank Fahrrädern, Autos, Bus und Bahn gelangten die Leute aus den Dörfern im Umland ins lasterhafte Städtchen mit seinen attraktiven Vergnügungen. Im Übrigen war Stuttgart auch damals schon eine Verkehrsstadt: Wer es sich leisten konnte, hatte ein Automobil. 1928 lag Stuttgart bei den Autos im Vergleich zur Einwohnerzahl noch vor Berlin. 1928 gab es allerdings auch genau 3582 Unfälle, mit 1833 Verletzten und 44 Toten.
Und wenn die Männer mit Auto oder Motorrad in die Stadt kamen, trafen sie auf Frauen, die moderner wirken als viele heutzutage?
Es war eine Aufbruchzeit speziell für die Frauen, die nach dem ersten Weltkrieg oft auch beruflich ihren Mann stehen mussten und sich zunehmend gleichberechtigt fühlen durften. Die Frauen waren selbstbewusster, unabhängiger und gebildeter als noch vor dem Krieg. Der nun demokratische Staat, die Weimarer Republik, brachte das Wahlrecht und war zugleich die Geburtsstunde der „neuen Frau“, wie es hieß. Es wurde später geheiratet und öfter geschieden, mit Sexualität wurde unverkrampfter umgegangen, wilde Tänze wie Foxtrott, Shimmy oder Charleston waren en vogue, wie grundsätzlich körperliche Betätigung und Sport immer mehr weiblichen Zulauf erhielten.
Und dann gab es noch die Flappers: Was waren das denn für Frauen?
Die Anhängerin des Flapper-Stils trug eher kurze Röcke und kurze Haare und beeindruckte die Umgebung durch ihr freches Auftreten. Und dann gab es noch die Garçonne, die war eher burschikos, trug kurze Kleider ohne Betonung von Busen oder Taille und sorgte auch mit Jackett oder Smokingoberteilen im Herrenstil für Aufsehen.
All das spiegelte sich auch in einer heutzutage unvorstellbaren Menge an Zeitungen wider?
Absolut. Das dominierende Medium war die Tageszeitung. Es gab in Stuttgart 20 Zeitungen, jede Weltanschauung hatte ihr eigenes Blatt. 1928 wurde ja auch der von Ernst Otto Oswald konzipierte, moderne Tagblatt-Turm mit seinen 18 Etagen eröffnet. Der Turm war der Stolz der bürgerlich-liberalen Presse und das erste Hochhaus in Württemberg, eines der bedeutendsten Architekturdenkmale des Neuen Bauens, inspiriert vom Chicago Tribune Tower von 1925. Stuttgart war eben auch in der Architektur eine experimentierfreudige Stadt, wenn man nur an die Weißenhof-Ausstellung von 1927 denkt oder ans Kaufhaus Schocken.
Stuttgart war eine liberale Stadt?
Das kann man so sagen. Die Vagabundenbewegung hatte hier ihr Zentrum, es gab die Waldheime, die Waldorfschulen. Begünstigt wurde dieses Klima durch die florierende Wirtschaft. Stuttgart zählte, hinter Wiesbaden und Frankfurt am Main, zu den drei reichsten Städten Deutschlands. Allerdings in der Folge auch zu den teuersten. Und auf dem Höhepunkt der Krise 1932/33 war auch jeder fünfte Stuttgarter arbeitslos.
Was mir bisher gar nicht so bewusst war: Kurt Schumacher, einer der renommiertesten Sozialdemokraten Deutschlands überhaupt, hat hier seine politische Laufbahn begonnen.
Kurt Schumacher hat man lange Zeit nur rückwärts, vom Ende her gewürdigt, als Gegenspieler Konrad Adenauers. Dabei kam er als gebürtiger Ostpreuße 1920 als politischer Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Schwäbische Tagwacht“ nach Stuttgart, wurde 1924 in den Landtag gewählt, wo er durch seine emotionalen Auftritte gegen politische Gegner für Furore sorgte. Die SPD führte einen modernen Wahlkampf, setzte Filme, Lautsprecher und Schallplatten als Werbemittel ein und schnellte 1928 bei der Reichstagswahl in Stuttgart von 18,2 auf 31 Prozent hoch. 1930 wurde Schumacher SPD-Vorsitzender in Stuttgart. Berühmt ist seine Rede gegen die Nazis, der NSDAP sei „die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen“, wetterte er im Reichstag.
Und mit den Nazis ist auch die Weltoffenheit, die Kultur verschwunden.
Es ist die Tragik dieser Epoche, dass sie durch den Irrsinn der Nazis ausgelöscht wurde. Dabei war das zum Ende der Weimarer Republik nicht mal unbedingt zu erwarten. Die Artikel in den Stuttgarter Zeitungen vom 31. Dezember 1932 fielen keineswegs apokalyptisch aus, die Wirtschaft hatte sich erholt, man dachte, der Spuk mit den Nazis sei ausgestanden. Doch es kam anders, und auch viele Stuttgarter, die das Klima der Roaring Twenties geprägt hatten, mussten emigrieren oder wurden umgebracht.
Die Avantgarde war vorbei. Doch Sie kommt wieder. Spätestens mit den Erinnerungen, wenn die Roaring Twenties selbst 100 werden. Der Hype wird kommen.
Das wird gar nicht mehr so lange dauern. Spätestens ab 2018 geht’s los mit 20er-Jahre-Partys, Musik, Lesungen; Theaterstücke werden aufgeführt. Womöglich wird das manchem zu viel sein, aber ich freue mich darauf. Vielleicht folgt dann ja eine ähnlich interessante Epoche wie vor 100 Jahren.