Hunderte gedenken zehn Jahre nach dem Massaker am Gutenberg-Gymnasium den Opfern.
Erfurt - Erwachsene streifen ziellos durch die breiten Gänge des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt. Einige blicken aus den großen Fenstern in die Ferne, viele haben feuchte Augen. Ein paar erzählen sich Anekdoten aus ihrer Zeit an der Schule. 3000 glückliche Tage hatte er hier, einen sehr dunklen, sagt der ehemalige Schüler Robert Rustler auf einer Trauerfeier zum Gedenken an den Amoklauf vor zehn Jahren, bei dem 17 Menschen starben.
Mehrere hundert Menschen, darunter zahlreiche ehemalige Schüler, kommen am Donnerstag zum Gedenken an die Opfer in der Schule im Zentrum der Stadt zusammen. Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) findet sich vor der Gedenktafel am Eingang der Schule ein, begleitet unter anderem von Kultusminister Christoph Matschie (SPD) und Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD). Eine siebenköpfige Delegation einer Elterninitiative reiste aus Winnenden in Baden-Württemberg an, wo es vor drei Jahren einen Amoklauf an einer Schule gegeben hatte.
„Zu viel Zukunft wurde hier genommen“
Um 11.00 Uhr läuten die Glocken aller Kirchen der Stadt und erinnern an das Massaker, das zu diesem Zeitpunkt vor zehn Jahren begann. Auf den mächtigen Treppen vor dem alten Schulgebäude brennen 16 Kerzen, Kinder haben weiße Luftballons und Blumensträuße in den Händen. Einige verstecken trotz des düsteren Wetters ihr Augen hinter Sonnenbrillen, andere liegen sich weinend in den Armen, als schließlich die Namen der Getöteten verlesen werden. „Geduldig“, „witzig“, „voller Tatendrang“ - „Mutter“, „Ehefrau“, „Tochter“ sind einige der Worte, die Schulleiterin Christiane Alt für jedes der Opfer findet.
„Die Wunden sind noch nicht verheilt“ hatte Lieberknecht vor der Veranstaltung gesagt. „Der Jahrestag lässt die Bilder wieder hochkommen“, sagt Bausewein, der selbst die Schule besuchte. Er hätte damals nicht gedacht, dass Erfurt einmal wieder so wird wie es war, sagt er heute.
An den öffentlichen Gebäuden der Stadt hängen die Fahnen auf Halbmast. Alle wüssten noch heute genau, wo sie damals waren, sagt die Schulleiterin bei der Trauerfeier. „Zu viel Zukunft wurde hier genommen, zu viele Biografien beschnitten.“ Damit meine sie nicht nur die 16 getöteten Menschen und die damaligen Schüler. Sie denke auch an die Angehörigen, die Freunde, die Trauernden.
Frage nach dem „Warum?“ sei utopisch
Erst Jahre nach der Bluttat ist die ehemalige Schülerin Constanze Krieg „an den Punkt gekommen, wo es nicht mehr ging“, sagt sie vor den Trauernden. Als Studentin musste sie sich in Behandlung begeben, enge Räume und Menschenansammlungen konnte sie irgendwann nicht mehr ertragen. Krieg erzählt ihre Erinnerungen an den Tag, wie sie die Hände eines Mitschülers hielt, den sie vorher nicht kannte. Die Frage nach dem „Warum?“ sei utopisch, findet sie.
Viele der ehemaligen Schüler und Lehrer beschwören heute die engen Bande, die das Ereignis vor zehn Jahren um sie gelegt habe. Dass sie heute anders über das Leben dächten, sensibler geworden seien im Umgang mit Anderen und genauer hinhörten. Trotzdem müssten die Waffengesetze verschärft werden, sagt ein Vater, der zwei Kinder an der Schule hatte. Außerdem sollte der Lern-Druck an den Einrichtungen gesenkt werden, sollten Schulpsychologen eingestellt werden, betonen Politiker und Vertreter von Verbänden immer wieder.
„Es ist an uns, diese Lehren umzusetzen“ findet der ehemalige Schüler Rustler. Damit dieser eine Tag vor zehn Jahren nicht die Tausenden glücklichen in den Schatten stellt.