Bahnhofstraße in Zürich 1882 Foto: Edition Hochparterre/Baugeschichtliches Archiv

Ein Mythos? Ist die Bahnhofstraße in Zürich auch. Vor allem aber ein Boulevard realer Sehnsüchte – bis hin zu den besten Schokoladen.

Stuttgart - Gleichzeitig mit der Wiener Ringstraße feiert in diesem Jahr ein zweiter europäischer Boulevard sein 150-Jahr-Jubiläum: Der erste Bauabschnitt der Zürcher Bahnhofstrasse wurde im Jahr 1865 zwischen Hauptbahnhof und Paradeplatz eröffnet. Damit schuf sich die Schweizer Eidgenossenschaft in ihrer größten und wirtschaftlich wichtigsten Stadt eine Prachtstraße.

Anders als in Wien reihten sich dort nicht repräsentative Bauwerke für Politik, Verwaltung und Kultur auf, sondern architektonisch zurückhaltende, vornehm-gediegene Wohn- und Geschäftshäuser, die der Straße großbürgerliche Eleganz verliehen. Heute gilt die Zürcher Bahnhofstraße als eine der teuersten Einkaufsmeilen der Welt – Ladenmieten mit Quadratmeterpreisen bis zu 30 000 Franken sind die höchsten in Europa.

Obwohl die 1,4 km lange Bahnhofstrasse heute wie die direkte Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Zürichsee wirkt, folgt sie doch als Boulevard der ehemaligen westlichen Stadtmauer Zürichs, der alten, abgetragenen Stadtbefestigung und dem zugeschütteten Fröschengraben. Statt einer Ausstellung dokumentiert ein umfassendes Buch Geschichte und Gegenwart dieses Schaufensters der Schweiz, der Welt-Zentrale der Schweizer Banken und – mit der Confiserie Sprüngli am Paradeplatz – dem Sehnsuchtsort süßer Schokoladenträume.

Huber nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise

Werner Huber hat in seinem Band „Bahnhofstrasse Zürich“ der Prachtstraße ein dauerhaftes Denkmal gesetzt. Auf 300 opulenten Seiten breitet der Autor ein historisches, kulturgeschichtliches und architektonisches Panorama dieses Boulevards aus, dessen zurückhaltende, gediegene Ästhetik bis heute in erster Linie der bürgerlichen Aufgabe des Kaufens und Verkaufens dient. In vergnüglich zu lesenden Texten stellt der Autor die an der Bahnhofstrasse liegenden Geschäftshäuser, Bankpaläste, Kaufhäuser, Cafés und Restaurants vor und nimmt den Leser auf eine spannende Zeitreise mit und kennzeichnet den sich stetig wandelnden Boulevard als urbanen Kristallisationsraum Schweizer wie europäischer Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert.

Immer schwingt in den Texten und zahlreichen historischen und aktuellen Abbildungen des Buches – dessen Einband beredt in Gold gehalten ist – der Ruf der Bahnhofsstraße als einer Luxusmeile mit. Dazu gehört die Fama, dass der Paradeplatz, der die Straße in zwei Abschnitte teilt, von den Goldtresoren der Banken unterhöhlt sei und das Diktum, dass in Zürich und seiner Prachtstraße nur gedämpftes Geräusch zur Ortsdisziplin gehöre. Und dass diese Ruhe nur durch das Klacken von Jimmy-Choo-Absätzen und dem gelegentlichen Quietschen der Straßenbahn unterbrochen werde.

Hubers Darstellung von Geschichte und Gegenwart der Zürcher Bahnhofstrasse ist eine mustergültige Arbeit zur historischen Urbanistik – und für Zürcher und Nichtzürcher gleichermaßen eine spannende Lektüre wie Anleitung zur Erkundung einer der schönsten Straßen Europas, die von Stuttgart aus schnell und bequem zu erreichen ist.

Werner Huber, „Bahnhofstrasse Zürich. Geschichte – Gebäude – Geschäfte.“ Edition Hochparterre, Zürich 2015. EUR 95.