In der Berliner Volksbühne: „Die 120 Tage von Sodom“ Foto: dpa

Bis an die Decke türmen sich die Regale, bestückt mit Artikeln nicht nur des täglichen Bedarfs. Da finden sich, knallbunt verpackt, einige Drohnen im Angebot, und auch der BND ist noch zu haben. Ein greller Auftakt Von Johann Kresniks Version von „Die 120 Tage von Sodom“.

Berlin - Das fängt ja gut an. Bis an die Decke türmen sich die Regale, bestückt mit Artikeln nicht nur des täglichen Bedarfs. Da finden sich, knallbunt verpackt, einige Drohnen im Angebot, und auch der BND ist noch zu haben. Noch bevor die Vorstellung richtig beginnt, dröhnt ohrenbetäubend Popmusik aus den Lautsprechern, und die sieben Solisten des Abends gebärden sich wie Marktschreier.

Ist da also doch mehr als nur (Medien-)Aufregung vorab? Nach Angaben der Volksbühne will Johann Kresnik in seiner Inszenierung von Pasolinis „120 Tage von Sodom“ eine neue, verborgene Form des Terrors untersuchen: den „Konsumfaschismus“. Tatsächlich lässt er sich am Rosa-Luxemburg-Platz gleich zu Beginn als eine Horror-Vision erleben, bevor ihr Roland Renner als verkörperte Politik mit einem Maschinengewehr ein Ende setzt: Leicht geschürzt und kurz behost präsentieren sich die Tänzer erst in einem Videoclip, bevor sie die vollen Regale plündern: ein Ensemble potentieller Opfer, die im weiteren Verlauf als Spielmaterial einiger Sadisten dienen.

Zu denen zählt nicht nur der Politiker. Es gibt einen Richter, einen Banker, einen Bischof, der immer wieder predigt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“ und sich an den Knaben vergeht. Neben Ilse Ritter und Inka Löwendorf, die der Programmzettel als Huren ausweist, gibt es vor allem Ismael Ivo.

Wie ein reich dekorierter Generalvertreter der US Army lümmelt sich Ivo, der einst die Tanztheaterarbeit im Theaterhaus Stuttgart begründete, neben das Klavier und stopft einen Eimer voll Popcorn in sich hinein: ein Nahrungsmittel, das sich weitgehend noch selbst repräsentiert – anders als die Unmengen von Apfelsaft, Hackepeter und Schokoladenpudding, die in dem 90-Minuten-Stück Verwendung finden.

„Der Mensch ist, was er isst: Scheiße.“ So lautet noch einer der harmloseren Sätze im Libretto Christoph Klimkes. Johann Kresnik, 75 und inzwischen allenfalls ein bisschen weißer, schreckt bei der Beweisführung vor keinem Mittel zurück. Der Kärntner Künstler, in Stuttgart nicht nur wegen seines Tanztheaterstücks „Ulrike Meinhof“ in Erinnerung, will ja nicht gleich wieder die mühsam erarbeitete Position eines grand-père terrible verlieren. Darum erfüllt er der einstigen Wirkungsstätte die in ihn gesetzten Erwartungen auf seine Weise: sich selbst übertrumpfend und provozierend.

Schließlich steht die DVD-Version des Pasolini-Films „Salò, oder die 100 Tage von Sodom“ in Deutschland auf dem Index, und so ist Kresnik jedes Mittel recht, auch wenn er damit den Blick auf die ungleich differenziertere Vorlage verstellt und die stärksten Momente, sprich die Tanzszenen, relativiert. Gemeinsam mit Ismael Ivo hat er sie choreografiert. Und der interpretiert sie teilweise auch, wenngleich mit weniger Charisma als früher. Die stärkste Nummer: ein verrückt verlachtes Sado-Solo von Yoshiko Waki, das fast Butoh-Qualität erreicht.

Postwendend wieder ein Klischee à la Kresnik: Da wird Sarah Behrendt von den Schergen wie ein Stück Vieh an Stangen hängend hereingetragen. Auf den Boden gestellt, erweist sich ihr schwarzes Gewand als eine Burka. Schützen kann sie die Sängerin nicht: Bloßgestellt und aller Kleidung bar, wird sie solange von den fünf Männern bepinkelt, bis Ismael Ivo aus der Tiefe des Theater auftaucht, der Kriegsgott höchstpersönlich. Und aus dem Bühnenhimmel plumpsen, bandagiert und blutig, jede Menge Puppen, als handelte sich dabei um geschundene Kinder: ein etwas besserer Einfall, geschuldet wohl Gottfried Helnwein, der als Bühnenbildner agiert.

„Die Vorstellung“, schreibt die Volksbühne, „ist für Zuschauer unter 18 Jahren nicht geeignet“. Schwer zu sagen, ob man sie jemanden empfehlen sollte.