Pfarrer Scott Morrison (li.) und Kirchengemeinderatsvorsitzender Hans-Ulrich Schiel Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Im Vergleich zu den Amtskirchen ist die Mitgliederzahl bei der Lutherischen Immanuelsgemeinde konstant. Jetzt feiert sie ihr 100-Jähriges – und wird von manchen für ihr lebendiges Gemeindeleben bestaunt.

Viele kennen diese Kirche. Steil in den Hang, „wie eine kleine trutzige Burg“ (Stuttgarter Nachrichten, 7. Mai 1955) gebaut, gehört sie schon eine halbe Ewigkeit an der Ecke Schwarenberg-/Wagenburgstraße zum Stadtbild im Stuttgarter Osten. Aber kennen heißt nicht gleich kennen. Wer weiß schon, dass es sich hier um die Immanuels-kirche handelt? Wer weiß, dass sich hier jeden Sonntag um 9.30 Uhr rund 400 Seelen im Namen der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) versammeln? Und wenige dürften wissen, was die Evangelisch-Lutherischen in ihrer Freikirche (frei vom Staat, nicht freireligiös) von den gemeinen Protestanten der württembergischen Landeskirche unterscheidet.

Protestantische Kirche mit katholischen Zügen

Im Kirchenjargon erklärt, sind es die Merkmale, die die Reformierten von Lutherischen trennen. Also vor allem in Fragen der Liturgie sowie im Bekenntnis zum Abendmahl. Beides ist von großer Nähe zur Theologie und den Riten der katholischen Kirche geprägt. Hinzu kommt: Anders als in der evangelischen Landeskirche ist bei den Lutherischen keine Frauenordination möglich, aber es besteht die Möglichkeit zur Beichte. Und weil man in den 1920er Jahren partout nicht vom König zu einer Union mit den Reformierten gezwungen werden wollte, gründete ein knappes Dutzend Gläubiger um Pfarrer Wilhelm Oesch vor 100 Jahren am 22. August im Wohnzimmer der Familie Seez in Untertürkheim die Immanuelsgemeinde. Es ist die erste und einzige in Süddeutschland.

Programm mit Strahlkraft

Das Programm von damals hat offenbar bis heute seine Strahl- und Bindungskraft nicht verloren. Während den Amtskirchen beider Konfessionen scharenweise Mitglieder davonrennen, hat die Stuttgarter Gemeinde der Lutherischen über die Jahre hinweg konstante Zahlen. „Es sind 420 Mitglieder“, sagt Pfarrer Scott Morrison (57) stolz. Was die Gründe dieser Stabilität sind? Der gebürtige US-Amerikaner Morrison, der die Gemeinde seit 2017 leitet, beschreibt es so: Erst kürzlich habe er ein Paar neu in die Gemeinde aufgenommen. Beide verkörpern aus seiner Sicht die allgemeine Unzufriedenheit der Christen mit den Amtskirchen. „Sie haderte mit den üblichen Missständen in der römisch-katholischen Kirche“, berichtet Morrison, „er mit der Verkündigung in der evangelischen Landeskirche, die ihm zu politisch ist.“ Beide hätten nun in seiner Gemeinde „die goldene Mitte“ gefunden: „Eine Verkündigung, wie es der Glaube gebietet, sowie Trost und Orientierung.“

Großes Einzugsgebiet

Mit diesen Konturen ist die Immanuelsgemeinde nicht nur Anziehungspunkt für Stuttgarter. Der Radius, aus dem Menschen nach Stuttgart kommen, hat rund 100 Kilometer.

Und an dieser Stelle kommt Hans-Ulrich Schiel (75) ins Spiel. Der Mann ist nicht nur Vorsitzender des Kirchengemeinderats, er ist der „direkte Begleiter von Pfarrer Morrison“, wie er sagt. Der Sohn eines Hamburger Pastors leitet in Zeiten der Vakanz den Gottesdienst, macht Besuchsdienste oder verfasst die Rundmails an die Gemeinde. Es sind erbauliche Zeilen, die vor allem in den schweren Tagen der Pandemie Mut machen sollen. „Wir hören aufeinander und denken nach über das Gehörte, gleichen das mit dem ab, was wir seither dachten, und sind damit beschäftigt, uns zu orientieren. Die glatte Wahrheit ist kaum zu finden“, sinniert Schiel. „Immer bewegen wir uns in einer Art Erkenntnisdickicht. Kurze Ausblicke aus dem Gestrüpp lassen ein Stück Horizont erkennen, und im nächsten Augenblick ist es wieder ein anderer Ausschnitt, der sich auftut.“ Was Schiel, den Zahnarzt im Ruhestand, bewegt und was er ausspricht, trägt Früchte. Und ist vielleicht ein Programm zu mehr Gemeinsamkeit aller Christen in der Stadt.

Hervorragende Nachbarschaft

Im Osten wird es jedenfalls an den sehr guten Beziehungen der SELK zu den katholischen und evangelischen Gemeinden sichtbar. Zu den Jubiläumsfeierlichkeiten überlässt die Lukasgemeinde den Lutherischen sogar ihre Kirche. „Wir pflegen als Kirchengemeinden im Stuttgarter Osten einen sehr guten geschwisterlichen Kontakt – wertschätzend und füreinander aufgeschlossen“, bestätigt Albrecht Conrad, Pfarrer der Lukaskirche, ebenso wie seine Kollegin Katharina Roos von der Petrusgemeinde oder Josef Laupheimer von der katholischen Herz-Jesu-Gemeinde.

Pfarrerin Roos hat indes einen besonderen Blick auf das Jubiläum: „Ich staune, und es tröstet mich zugleich, dass es der Immanuelsgemeinde offenbar schon über 100 Jahre lang gelungen ist, ihrer Identität und der ureigenen Stimme ihres Bekenntnisses im Wechsel der gesellschaftlichen Trends und Meinungen treu zu bleiben und auch als kleine Gemeinschaft mit weit verstreut lebenden Gemeindegliedern ein vielfältiges, kreatives und lebendiges Gemeindeleben zu organisieren und zu bewahren.“