Der Kongress anlässlich des 100. Geburtstags der anthroposophischen Medizin in der Filderhalle wurde abgesagt. Grund: der Coronavirus. Foto: Eileen Breuer

Die anthroposophische Medizin feiert ihr 100-Jahr-Jubiläum. Was kennzeichnetdiese Form der Medizin? Antwort auf diese Frage gibt Thomas Breitkreuz, Ärztlicher Direktor der Filderklinik in Filderstadt-Bonlanden.

Bonlanden - Vor 100 Jahren wurden die Grundsteine der anthroposophischen Medizin gelegt. Der Mensch ist hierbei nicht nur als Auto in der Werkstatt zu begreifen, dessen kaputten Teile es zu reparieren gilt. Stattdessen wird er als Einheit von Leib, Seele und Geist charakterisiert. Wie sich dieses Verständnis in der Diagnose von Krankheiten und der Behandlung von Patienten niederschlägt, erklärt Thomas Breitkreuz, Ärztlicher Direktor der Filderklinik, im Interview.

Warum sollte ich mich bei Krankheit in die Filderklinik begeben und nicht in ein anderes Krankenhaus?

Zunächst einmal: Wir wollen gar keine Patienten von anderen Kliniken abwerben, mit denen wir ja eng zusammenarbeiten. Patienten, die uns aufsuchen, wählen die Filderklinik wegen unserer inhaltlichen Besonderheit. Wir sind ein Krankenhaus, das einerseits für die Versorgung der Bevölkerung zuständig ist und alles kann, was man dazu in der modernen Medizin braucht, dann aber zusätzlich einen Schwerpunkt mit den ganzheitlichen Therapien hat, die über diese Versorgung hinausgehen. Das nennt man heute Integrative Medizin, für die wir Vorreiter sind: das Beste der Schulmedizin und das Beste der ganzheitliche Behandlungsverfahren klug und patientenzentriert miteinander zu verbinden.

Ganzheitlichkeit bedeutet, den Menschen als Einheit von Leib, Seele und Geist zu verstehen. Was ist daran in der Medizin nun besonders?

Das bedeutet, dass wir neben allen fachlich gebotenen Maßnahmen, die sich oft gezielt gegen eine Erkrankung richten, mit Naturmedikamenten, aber auch pflegerischen Anwendungen wie Wickeln Heilungsprozesse im Organismus anregen, von denen wir wissen, dass sie zu einer umfassenden und nachhaltigen Gesundung beitragen. Seele und Geist spielen in der Medizin eine größere Rolle als vor einigen Jahrzehnten gedacht, und die Anthroposophische Medizin hat eine Vorreiterrolle dabei gehabt, diese Dimensionen des Menschseins im medizinischen Alltag wirklich ernst zu nehmen.

Ein Magengeschwür bekommt man aber nicht mit Wickeln in den Griff.

Nein, natürlich nicht. Gegen ein Magengeschwür verordnen wir für die schnelle Heilung Medikamente wie Protonenpumpenhemmer, die die Bildung der Magensäure unterbinden, und im äußersten Notfall muss man jederzeit operieren können. Wenn wir aber sehen, dass ein Betroffener konstitutionell zu Magengeschwüren neigt, also immer wieder Magenbeschwerden bekommt, würden wir zusätzlich etwas geben, das auch die eigenen Heilungskräfte des Körpers gezielt anregt. Damit wollen wir eine Gesundung stimulieren, die einen weniger anfällig dafür macht, in Zukunft ein neues Magengeschwür zu bekommen. Daran sieht man, dass es wichtig ist, mit den konventionellen und den anthroposophischen Therapieformen kompetent umgehen zu können und zu wissen, was man mit dem einen wie dem anderen erreicht und was nicht. Das können wir gut, weil bei uns die Behandlung durch erfahrene Fachärzte erfolgt, die in beiden Welten der Behandlung absolut sattelfest sind.

Kritiker halten anthroposophische Medizin für Quacksalberei. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

(lacht) Das sehen wir ganz gelassen. Man muss ja nur auf die Behandlungsergebnisse schauen, bei denen wir – auch in der offiziellen Qualitätssicherung – ziemlich gut abschneiden. Ein Beispiel: Wir verordnen bei Frühgeborenen auf unserer Frühgeborenen-Intensivstation wesentlich weniger Antibiotika als üblich, haben aber zugleich exzellente Behandlungsergebnisse. Gerade hier können wir einen wichtigen Beitrag zum Problem der Antibiotikaresistenz leisten. Wenn jemand sagt, er könne sich das alles nicht vorstellen, können wir antworten: komm und sieh.

Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der anthroposophischen Medizin war ein Kongress in Leinfelden geplant. Der wurde wegen des Coronavirus abgesagt. Ist das gerechtfertigt?

Absolut. Wir müssen die Ausbreitung des Virus eindämmen. Die Filderklinik ist in Sachen Corona voll involviert; wir helfen ja durch die kostenlose Bereitstellung von Mitarbeitern gerade, die Drive-In-Abstrichstellen im Landkreis zu betreiben. Wir wissen zwar, dass sich die Infektion bei 80 Prozent der Erkrankten nur als Erkältung äußern wird, doch es wird auch die Schwerkranken geben, die das Gesundheitssystem überlasten könnten. Auf deren Behandlung bereiten wir uns vor, auch auf der Intensivstation.