Offiziell bringen die Kinderhelden Ehrenamtliche mit Grundschülern zusammen, die Unterstützung brauchen. Manchmal wird daraus viel mehr. Ein Selbsterfahrungsbericht.
Mitten im Gespräch bekomme ich plötzlich Fracksausen: Kann ich das überhaupt? Wie werde ich zum Beispiel fertig mit einem Kind, das keine Lust auf gar nichts hat, schon gar nicht auf Lernen? Wenn es motzig und pampig ist? Und überhaupt: Wenn man sich selbst nie für Mathe interessiert hat, wie soll man da Schüler fürs Rechnen begeistern?
Es ist offenbar kein Zufall, dass Yeva sehr gut in Mathematik ist. Seit einem Jahr sind die Siebenjährige und ich ein Team: Sie als Mentee, ich als Mentorin. Die Kinderhelden, eine gemeinnützige Initiative für mehr Bildungsgerechtigkeit haben uns zusammengebracht. Und dass wir uns von der ersten Minute an blendend verstanden haben, das ist, wie Andrea Klein sagt, das Ergebnis langer, harter Arbeit. Bei der Auswahl der Tandems nehme man sich sehr, sehr viel Zeit. Andrea Klein ist eine der wenigen Festangestellten der Kinderhelden in Stuttgart und fürs Marketing zuständig.
Großes Hallo in der Marienschule
Denn wenn es um Ehrenamt geht, muss permanent getrommelt werden – wobei die Kinder eigentlich selbst die besten Botschafter sind. Zumindest ist es immer ein großes Hallo, wenn ich in der Stuttgarter Marienschule ankomme. Sofort werde ich von einer wuselnden Schar mit neugierigen Fragen bombardiert: Bist du Kinderheldin? Was macht ihr heute? Kann ich mitkommen? Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass man als Nachhilfelehrerin so ein hervorragendes Image genießt.
Wobei Nachhilfe nur bedingt zutrifft. Ganz klar: Wir sind dazu da, Kinder, die keine so guten Startbedingungen haben, im Rechnen, Schreiben und Lesen zu unterstützen. Mit dem Eins-zu-Eins-Mentoring soll aber auch das Selbstbewusstsein gefördert werden. In diesen rund zwei Stunden pro Woche sollen sie erleben, dass jemand ausschließlich für sie da ist – und nicht noch en passant für die Eltern oder Geschwister. Deshalb gibt es auch klare Regeln. Man geht nicht in die Wohnung der Familien, ebenso dürfen die Kinder nicht zu einem nach Hause.
„Kinderheldin – Superheldin“
Yeva hatte sehr gute Startbedingungen – bis Putin in der Ukraine einmarschierte. Seither leben und arbeiten die Eltern hier – und sind mit Kopf und Herz doch immer in der Heimat. Ihr kleines Mädchen ist ihr Anker in dieser fremden Welt und mit gerade mal sieben Jahren schon perfekt im Dolmetschen. Sie war es auch, die den Eltern verraten hat, welche Schokolade ich mag oder was mich erfreuen könnte. Es gibt viele kleine Gesten, mit denen Yeva und ihre Eltern mir signalisieren, wie dankbar sie für meine Unterstützung sind. „Kinderheldin – Superheldin“, schrieb Yeva auf meine Geburtstagskarte.
Wer je ein Ehrenamt ausgeübt hat, der weiß, dass man nie nur uneigennützig unterwegs ist. Als ich in der Zeitung las, dass die Kinderhelden Mentoren suchen, war mein spontaner Antrieb, großmütig denen zu helfen, die es nicht so gut haben wie ich. Dass das manchmal auch frustrierend sein könnte, dämmerte mir beim Bewerbungsgespräch, bei dem ich auf Herz und Nieren oder besser Nerven getestet wurde. Wie werde ich damit umgehen, wenn das Kind nicht zum Termin erscheint? Was tun bei Krisen? Das Online-Gespräch ging durchaus ans Eingemachte. Neben der Motivation wurden auch eigene Erlebnisse in der Kindheit abgefragt. Dass Ohrfeigen oder ein Klaps auf den Po in meiner Jugend als probates Erziehungsmittel galten, fühlte sich plötzlich sehr ungut an.
Es gibt vereinzelt Interessenten, die dieses standardisierte Aufnahmeverfahren nicht bestehen, erzählt Andrea Klein. Das ist bitter, denn obwohl derzeit allein in Stuttgart 500 Tandems am Start sind, warten viele Kinder ungeduldig auf ihren Kinderhelden – wie die beste Freundin von Yeva, ein italienisches Mädchen, das mich jede Woche wieder mit traurigen Augen anschaute. Vor Kurzem hat sie endlich eine Mentorin bekommen und erzählt nun jedes Mal stolz, was sie zuletzt unternommen haben.
Deutsch – absurd schwer
Vielleicht habe ich das Aufnahmeverfahren als Mentorin nur bestanden, weil ich während des Gesprächs meine aufkeimenden Ängste ansprach, ob ich der Aufgabe überhaupt gewachsen bin. Sorgen, die ernst genommen wurden. Denn mit Yeva wurde mir ein Kind zugewiesen, das es mir sehr leicht gemacht hat, in die Aufgabe hineinzuwachsen. Sie ist absolut verlässlich, freundlich, fröhlich und fleißig, sodass ich mich weder um Mathe noch um Hausaufgaben kümmern muss, sondern allein um Sprachförderung. Das kommt mir entgegen, ist aber auch nicht ohne, wie ich schnell feststellen musste. Was ist der Unterschied zwischen „als“ und „wenn“? Und warum lautet der Plural von Lehrer nicht Lehrers? Deutsch ist wirklich absurd schwer.
Die ersten Treffen der Tandems müssen in der Schule stattfinden. Aber wie ich da so mit Yeva auf diesen kleinen Stühlen an einem der Zwergentische saß, konnten wir noch so viel basteln und malen, sehr schnell war klar, dass wir beide keine Lust darauf haben, nur in der Schule zu hocken, sondern lieber etwas unternehmen wollen. Inzwischen waren wir Minigolf spielen und picknicken, sind Schlittschuh gelaufen und Standseilbahn gefahren, wir waren auch schon in so ziemlich allen Museen der Stadt, im Kindertheater und im Planetarium. Dabei ist sie eine richtige Stuttgarterin geworden.
Bei diesen Aktivitäten haben wir nicht nur Spaß, sondern profitiere ich als Kulturjournalistin auch ganz konkret. Denn mit dem Blick aus Kinderaugen kann ich nun besser einschätzen, wo Kinder mit einem oberflächlichen Angebot abgespeist und beschäftigt werden – und wo man sie wirklich ernst nimmt. Im Landesmuseum waren wir schon mehrmals über Stunden unterwegs, haben Steinzeitflöten angeschaut, griechische Götter kennengelernt und überlegt, welche Straßen in Stuttgart nach württembergischen Königinnen und Prinzessinnen benannt sind. Olga, Katharina, Wera. „Und wo ist die Maria von der Marienschule?“, wollte Yeva natürlich wissen.
Schulen sind nicht so schlecht wie ihr Ruf
Die Kinderhelden fragen jeden Monat online ab, was wir getan haben und wie die Beziehungsqualität war – letzteres beantworte ich stets mit „weiterhin hervorragend“. Es gibt auch Ansprechpersonen, die Tipps geben und Lehrmittel zur Verfügung stellen. Bisher haben wir sie selten genutzt, weil Yeva und ich wie zwei alte Freundinnen immer viel zu erzählen haben, was wer erlebt hat und was in der Schule so los war.
Auch das habe ich gelernt: Schulen sind keineswegs so schlecht wie ihr Ruf. Die Marienschule überrascht mich zumindest immer wieder – allein wegen ihres umfassenden Betreuungsangebots. Yeva liebt es, in diese Schule zu gehen, sie steht auch an freien Tagen pünktlich vor dem Tor, weil es ein umfangreiches Ferienprogramm gibt. Das, hat sie mir erklärt, wird von „Erwachsenen“ angeboten. Die „Lehrers“ müssten sich ja auch mal von den Kindern erholen.
Obwohl wir permanent reden, ist Yevas Deutsch noch nicht so flüssig, wie ich es bei unserem Start prognostiziert hatte. Im Stuttgarter Café KoenigX kennt man uns schon, weil wir zwischen unseren Ausflügen hierher kommen zum „Arbeiten“: Lesen, Schreiben, Vokabeln und Grammatik üben – plus Kakao und Kuchen. Auch das wurde uns bei den Einführungstreffen mit auf den Weg gegeben: Die Kinder haben eigentlich immer Hunger.
Kinderhelden feiern Geburtstag
Inzwischen weiß ich, dass es nicht alle Mentoren so einfach haben wie ich. Die Kinderhelden bieten uns Erwachsenen regelmäßig Treffen zum Austausch an, bei denen man auch mal mit jemandem spricht, dessen Kind von heute auf morgen verschwand, weil die Eltern kommentarlos weggezogen sind. Sechzig Prozent der Mentoren sind berufstätig, natürlich sind die meisten weiblich, aber man trifft durchaus auch junge, engagierte Frauen und Männer, die wie ich beim Sommerfest mit ihren Kindern Eierlauf machen und Rätsel lösen.
Die Stadt Stuttgart unterstützt die hiesigen Kinderhelden finanziell, aber es sind Sponsoren, Stiftungen oder die Aktionen der Stuttgarter Zeitung, die es möglich machen, dass wir auch mal gemeinsam in die Wilhelma gehen können, ins Theater oder dass wir in der Kinderwerkstatt des Vereins Deutscher Ingenieure ein Nachtlicht gebaut haben. Jetzt weiß ich, dass Löten nicht meine Stärke ist.
In diesem Jahr feiern die Kinderhelden Geburtstag, sie wurden vor zehn Jahren in Stuttgart gegründet. Seither wurden bundesweit 10 000 Kinder gefördert. Ich freue mich jede Woche wieder, eines dieser Kinder treffen zu dürfen und zu erleben, wie bereichernd das besondere Verhältnis zwischen Mentee und Mentorin ist. Denn ohne Zweifel profitieren wir beide davon – und wenn es auch mal nur um die Vermittlung schlichter sozialer Kompetenzen geht. Denn zugegeben, Yeva hat mich schon mehrfach im Schulhof mit den Worten begrüßt: „Frau Braun, du bist zu spät.“
Mehr Informationen über das Projekt: www.kinderhelden.info