Ein Jahr nach Winnenden: Wie viel Gedenken an den Amoklauf muss

Ein Jahr nach Winnenden: Wie viel Gedenken an den Amoklauf muss sein? Worüber sollten die Medien in diesen Tagen besser nicht noch einmal berichten? Wir sprachen darüber mit einem der angesehensten Kinder- und Jugendpsychiater im Land: Prof. Dr. Jörg Fegert von der Universitätsklinik in Ulm.

Von Rainer Wehaus

Herr Professor Fegert, viele Eltern und Kinder waren in den letzten Monaten sicherlich dankbar, nicht mehr fast täglich in den Medien mit dem schrecklichen und auch beklemmenden Amoklauf von Winnenden konfrontiert zu werden. Das Ganze schlug allen doch schon ziemlich aufs Gemüt. Jetzt, zum ersten Jahrestag der Wahnsinnstat, kocht das Ganze wieder hoch. Muss das so sein?

Da maße ich mir kein Urteil an. Unsere Gesellschaft gedenkt an Jahrestagen, das ist halt so. Wenn man sich von öffentlicher Seite nicht um einen Rahmen für das Gedenken bemüht, würden es halt andere machen. So ein Ereignis zu tabuisieren wäre unrealistisch. Aber natürlich wünsche ich mir, dass das Gedenken mit Augenmaß stattfindet.

Was heißt das?

Man sollte nicht in Details gehen und den Täter weder heroisieren noch dämonisieren. Am besten wäre, man würde nicht mehr über seine Persönlichkeit berichten.

Wenn wir Journalisten über den Täter schreiben, dann wollen wir ihn damit aber doch nicht verherrlichen.

Sie tragen aber ungewollt dazu bei. Allein schon die Zahl der Opfer, die er getötet hat, zeigt bei amokgeneigten Personen Wirkung. Viele, die sich mit solchen Gedanken auseinandersetzen, haben ein klares Ranking. Das ist wie eine Hitliste. Alles, was diese Bedürfnisse befriedigt oder speist, ist aus meiner Sicht kontraproduktiv.

Das dürfte ein frommer Wunsch bleiben. Bundespräsident Horst Köhler kommt am Donnerstag zum Jahrestag und mit ihm wieder alle Medien, die groß berichten werden. Ginge es bei einem solchen Jahrestag nicht eine Nummer kleiner?

Wenn die Medien sich selbstkritisch hinterfragen, sehe ich das mit Sympathie. Den Organisatoren will ich aber keinen Vorwurf machen. Wenn der Bundespräsident anbietet zu kommen, dann zeugt das von Respekt gegenüber den Opfern und Hinterbliebenen. Das ist für viele Betroffenen wichtig. In der Frage, ob beim Gedenken zu viel des Guten getan wird, kehrt am besten jeder vor seiner Tür.

Nach Winnenden wurde an den Schulen viel über Amokläufe geredet. Jetzt wieder. Ist das für die Kinder nicht sehr belastend?

Man muss mit den Kindern darüber reden, dazu gibt es keine vernünftige Alternative. Ich hoffe und gehe auch davon aus, dass die Sache jetzt nicht wieder so hoch kocht, dass Panik entsteht. Die Tatsache, dass sich Winnenden ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, hat für die Hinterbliebenen und Traumatisierten auch einen positiven Aspekt.

Welchen denn?

Es hilft bei der Traumaverarbeitung. Keiner, der durch den Amoklauf etwas Schlimmes erlebt hat, muss anderen erst mühsam erklären, was Winnenden war. Das Opfer kann sich also leichter darauf beziehen als zum Beispiel in Fällen von sexuellem Missbrauch, die ja meist heimlich geschehen und wo die Aussagen der Opfer auch leicht mal angezweifelt werden. Bei Winnenden braucht keiner zu erklären, wie schlimm das war.

Das Land will nun mehr Schulpsychologen einstellen und flächendeckend Anti-Gewalt-Programme an den Schulen installieren. Dies geht aus den Empfehlungen des Sonderausschusses des Landtags hervor, die am morgigen Dienstag vorgelegt werden. Geht das in die richtige Richtung?

Ich werde die Empfehlungen des Sonderausschusses erst kommentieren, wenn sie offiziell vorgelegt werden. Grundsätzlich kann ich aber sagen: Alles, was dazu beiträgt, dass sich das Klima an den Schulen verbessert, was dafür sorgt, dass Schüler nicht herabgesetzt oder lächerlich gemacht werden, geht in die richtige Richtung.

Sie wurden als Experte auch vom Sonderausschuss des Landtags angehört. Da sollen Sie gesagt haben, dass seit Winnenden mehrere potenzielle Amokläufer aus dem Verkehr gezogen wurden und in stationärer Behandlung seien. Gibt es wirklich womöglich Hunderte potenzielle Amokläufer im Land, wie ein Kollege von Ihnen kürzlich sagte?

Es gab nach Winnenden viele Trittbrettfahrer. Darunter waren viele schlechte Scherze, aber auch Drohungen von Leuten, die seit längerem von Amokfantasien heimgesucht wurden und die behandlungsbedürftig waren. Ich war konkret mit solchen Fällen konfrontiert, mehr kann ich dazu nicht sagen. Da stehe ich unter Schweigepflicht.

Kam das alles erst nach Winnenden zutage?

Es gab auch davor schon Fälle, wo Patienten exzessiv über solche Gedanken redeten. Aber um ehrlich zu sein: Auch die Fachwelt hat durch Winnenden dazugelernt.

Man nimmt heute solche Fälle ernster?

Sicher.

Weil Amokläufe bei Schülern als Fantasie oder Drohung in Mode gekommen sind, es also ein wachsendes Problem unter Schülern darstellt?

Ja. Vor dem Schulmassaker in Columbine 1999 war das Ganze generell kein weltweites Thema. Erst durch das Internet und die mediale Rezeption und Verbreitung wurde das in der Fantasiewelt bestimmter Menschen eine mögliche Form der Reaktion.