Ein Holzschild begrüßt den Besucher in Klosterzimmern. Foto: dpa

Nachdem der Staat die meisten Kinder in Obhut genommen hat, bröckelt es in der Urchristen-Gemeinschaft. Fünf Familien sind nun nach Österreich umgesiedelt.Ein Aussteiger erzählt von seinen Gewalterfahrungen in der Sekte "Zwölf Stämme".

Nachdem der Staat die meisten Kinder in Obhut genommen hat, bröckelt es in der Urchristen-Gemeinschaft. Fünf Familien sind nun nach Österreich umgesiedelt.Ein Aussteiger erzählt von seinen Gewalterfahrungen in der Sekte "Zwölf Stämme".

Klosterzimmern - Einmal hat er ein bisschen Zucker geklaut und gegessen, erinnert sich Christian Reip. Erwachsene in der Gruppe prangerten das Vergehen an und forderten seinen Vater auf, den Sohn zu bestrafen. Also ging er mit dem Kind hinaus und verprügelte es. „Das Kind soll auf jeden Fall weinend zurückkommen, das erwarten die so“, erzählt Reip.

Szenen wie diese fallen dem 22-jährigen Mann zuhauf ein, wenn er an seine Kindheit- und Jugendjahre in der Sekte „Zwölf Stämme“ zurückdenkt. Doch was heißt hier schon Kindheit? „Ich hatte keine“, sagt Reip. „Von klein auf mussten wir für die Sekte schuften.“ Denn die „Zwölf Stämme“ sehen sich urchristlichen Idealen verpflichtet – wollen eine Kommune der Jünger sein, in der es keinen Besitz und keine Hierarchien gibt, in der alle streng nach dem Wortlaut der Bibel leben und arbeiten.

Vor viereinhalb Jahren hat es Reip nicht mehr ausgehalten. Der junge Mann floh mit Eltern und drei Geschwistern aus dem Sektenstützpunkt im fränkischen Wörnitz. Neben dem betreibt die Gemeinschaft ein Anwesen in Klosterzimmern im bayerisch-schwäbischen Donau-Ries-Kreis. Nördlingen ist das nächste größere Städtchen, nach Augsburg und Ulm sind es schon mehr als 80 Kilometer. In Klosterzimmern hat Reip einen großen Teil seines Lebens verbracht. Jetzt sitzt der schlaksige Mann in Nördlingen in einem Café am Marktplatz und erzählt. Etwa über Prügel mit der Rute, wenn die Kinder „weltliche Musik“ sangen. Oder wenn sie auf dem Hof herumrannten, die Arme ausgestreckt, und das Brummen eines Flugzeuges imitierten. „Wir standen unter totaler Überwachung“, sagt er.

Reporter filmt heimlich Misshandlungen

Schläge in der Erziehung und Schulverweigerung – deswegen stehen die „Zwölf Stämme“ seit langem in der Kritik. Im vergangenen Jahr hatte sich der Reporter Wolfram Kuhnigk in Klosterzimmern eingeschmuggelt und heimlich Misshandlungen gefilmt. Das Jugendamt des Landkreises reagierte schnell: Am 5. September 2013 wurden in einer Razzia-ähnlichen Aktion morgens um sechs Uhr mit viel Polizei und Blaulicht alle Kinder aus den Familien geholt – in Klosterzimmern und Wörnitz parallel, insgesamt 40. Den Sektenmitgliedern wurde das Sorgerecht entzogen, die Kinder in Heime und Pflegefamilien gebracht. Seither besuchen sie die Schule.

Nun wird vor Gericht um jedes einzelne Kind gerungen. Christian Reip wurde im Dorf Sus im Südwesten Frankreichs geboren, wo die „Zwölf Stämme“ einen Stützpunkt unterhalten. Der Vater, ein Maschinenschlosser, war in den 1980er Jahren friedensbewegt und mit den deutschen Nachrüstungsplänen nicht einverstanden. Er fühlte sich angezogen von der Gruppierung irgendwo zwischen alternativer Kommune und fundamentalistischem Christentum und zog dort ein. Seine Partnerin, eine Schneiderin, folgt ihm zögerlich.

Die Kommune bestimmte, wo die Familie Reip zu leben und zu arbeiten hatte. „Es war ein ständiges Hin und Her“, meint Christian Reip. Mal wurden sie in eine Gemeinschaft in der Nähe von Bremen beordert, dann nach Klosterzimmern, weiter nach Wörnitz, wieder nach Klosterzimmern. Insgesamt hat das Ehepaar Reip sechs Kinder. Doch die Familie wurde immer wieder getrennt – Christian musste als 17-Jähriger allein nach Sus, weil er sich auf die Montage von Solaranlagen spezialisiert hatte.

Besuch in Klosterzimmern: Nach erfolglosen Telefonaten ein Versuch, mit den Menschen zu sprechen. Ein Anwesen in Alleinlage, ehemals ein Zisterzienserinnen-Kloster mit gotischer Kirche. Ein Fußweg führt zwischen Häusern und Feldern entlang, rechts stehen große, alte bäuerliche Häuser, auf den Vorplätzen hängt viel Wäsche über den Leinen. Sehr schnell kommt eine Frau nachgelaufen: „Halt, was wollen Sie hier? Das ist Privatgrundstück.“

"Wir leben hier wie die Urchristen"

Sie hat lange grau-weiße Haare und trägt ein grobes, wallendes Kleid. Klosterzimmern dürfte aus 15 größeren Häusern bestehen, hinzu kommen Schuppen, Wirtschaftsräume, Treibhäuser, viel Ackerland. Die Sekte beruft sich auf das in der Bibel beschriebene „Zwölfstämmevolk Israel“. Ein älterer Mann mit freundlich funkelnden Augen, grauem Bart und Hut zimmert am Eingang an einer Sitzecke. Er erzählt: „Seit 30 Jahren bin ich schon dabei, wir leben hier wie die Urchristen.“ 80 bis 100 Menschen seien sie in Klosterzimmern – „aber jetzt fehlen ja die Kinder“.

Von 1979 an versucht die Sekte, die Kinder selbst zu unterrichten. Sieben Jahre lang hatte der Freistaat Bayern eine Genehmigung für privaten Unterricht erteilt. Christian Reip hat eine Bescheinigung, dass er die Schulpflicht erfüllt hat – mehr nicht, er hat nicht mal den Hauptschulabschluss. Ihm ist auch nicht bekannt, dass irgendeines der Kinder einen Abschluss hat. „Wir hatten einige Bücher aus den USA“, erinnert er sich. Denn dort ist die Zentrale, leben die meisten Mitglieder. Heute sagt Reip: „Mit dem Lesen und Schreiben tue ich mich schwer.“

Ausgebildete Lehrer hatte es an der Schule kaum gegeben, stattdessen unterrichteten Hebammen und Erzieherinnen. Wie oft in der Woche wurden Kinder mit dem Stock geschlagen? Reip lacht: „In der Woche? Jedes Kind praktisch täglich.“ Jene Frau, die am meisten unterrichtete, „war gefürchtet – die kannte keine Gnade“. Sie habe „saumäßig mit der Rute draufgedroschen“, auf offene Hände oder nackte Pos. Die Ruten wickelte sie mit Tesafilm ein. Reip: „Damit sie mehr weh tun und länger halten.“ Den Kindern sei klar gewesen, dass sie der Frau komplett ausgeliefert waren. Im alttestamentarischen Buch der Sprüche steht: „Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht.“ Der Kriminologe Christian Pfeiffer stellt fest: „Je religiöser die Familien sind, desto mehr verprügeln sie ihre Kinder.“

Der redselige ältere Mann wird rasch von zwei jüngeren ausgebremst. „Sie dürfen nicht rein“, sagen sie. „Wir reden nicht mit der Presse, da sind wir gebrannte Kinder.“ In den Artikeln würden „nur Lügen“ stehen.

Für die Augsburgerin Barbara Kohout, die Sektenaussteigern Hilfe anbietet, sind die „Zwölf Stämme“ eine typische „Religionsdiktatur“. Gerade körperliche Züchtigungen würden „lebenslange Verletzungen“ hinterlassen. Christian Reip, der heute eine Ausbildung zum Lkw-Fahrer macht, meint: „Wenn es in der Firma wegen einer Kleinigkeit ein bisschen Ärger gibt, zieht mich das tagelang runter. Ich habe dann riesige Angst, schlimm bestraft zu werden.“ Er fühle sich „so schwer“ und bewundere, „wie leicht die Gleichaltrigen durchs Leben gehen“.

Chefs mit Privilegien: Geld, Handy, Computer, Auto

In der Gemeinschaft unter Gleichen gebe es ein „Zwei-Klassen-System“. Da die Chefs mit Privilegien: Geld, Handy, Computer, Auto. Dort die „zweite Klasse“, denen alles verwehrt sei. Kannte Reip Kinderbücher oder Comics, Süßigkeiten, Videos? Er schüttelt den Kopf. Schokolade mache krank, wurde gesagt. Denn: „In Afrika, wo der Kakao herkommt, kacken die schwarzen Kinder darauf.“ Die Familie organisierte kleine Fluchten. So durften sie zum Optiker ins 40 Kilometer entfernte Aalen. Dort lebten die Großeltern, von ihnen bekamen sie etwas Geld zugesteckt. In einem Buchladen kauften sie davon zwei „Was-ist-was?“-Kinderwissensbücher, die sie verschlangen.

Die Sektenchefs erweisen sich als findige Geschäftsmänner. Erwachsene und Kinder arbeiten in der Landwirtschaft. In Klosterzimmern gibt es Firmen für Fotovoltaik-Montage und Bau-Unternehmen, aber keine Kranken- und Sozialversicherung – und auch keinen Lohn.

Doch mit der Wegnahme der Kinder kommt einiges in Bewegung. 26 der ursprünglich 40 entzogenen Kinder sind weiter außerhalb untergebracht. Fünf Familien haben sich Ende April mit ihren Kindern im Jugendalter von Klosterzimmern nach Österreich abgemeldet – um sich schützen? Oder um der Sekte zu entgehen? Ein Ehepaar, dem vier Kinder genommen wurden, hat die Sekte jüngst verlassen. So manches scheint gerade zu bröckeln.